Guadeloupe

Wir sind im Sinkflug auf Guadeloupe, einer Insel der Kleinen Antillen in der Karibik. Von oben betrachtet sieht sie aus wie ein deformierter Schmetterling. Der westliche Flügel ist Basse-Terre, der östliche Grand-Terre. Beide Landesteile unterscheiden sich topografisch deutlich voneinander: Basse-Terre ist gebirgig und fast durchwegs bewaldet, durchzogen von Flüssen und Wasserfällen. Die stillen Badebuchten und kleinen Fischerdörfer kontrastieren zum wilden Hinterland. Das eher flache Grande-Terre ist dominiert von Landwirtschaft, langen Stränden im Süden und  Nordwesten sowie steilen Felsklippen im Osten. Politisch gesehen ist Guadeloupe französisches Übersee-Departement, über 6’600 km vom «Mutterland» entfernt.

Die Häuser auf Guadeloupe sind im französischen Kolonialstil gehalten: ein- bis zweigeschossige Häuser mit einem Betonfundament und aus Übersee importiertem Holz für den Aufbau, mit durchgehenden Veranden und Walmdächern aus weissem Blech mit abschliessendem Zierornament. Wie in den südlichen Gegenden Frankreichs auch oft zu sehen, sind die Türen zweiflügelig und raumhoch. Tagsüber stehen Fenster und Türen sperrangelweit offen, um mit dem durchziehenden Wind die Hitze und die Mücken zu vertreiben.

Basse-Terre

Deshaies ist ein hübscher Ort mit hufeisenförmiger Bucht und einem Hafen, in dem nebst Fischerbooten einige grössere Segelyachten vor Anker liegen. Entlang des Strandes die Promenade mit einer Zeile altehrwürdiger Häuser, in denen Restaurants und Bars mit direktem Ausblick aufs Meer zu finden sind und die ein schönes Angebot an Meeresfrüchten und französischen Weinen bieten. Vom Hafenquai aus hat man einen guten Rundblick auf die Stadt, die sich bis in die bewaldeten Hügel hinaufzieht, und was wir erst für eine Siedlung halten, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Friedhof mit den für die Insel typischen Grabhäusern.

Das 1635 gegründete Dorf Saint-Rose war die erste Kolonie auf Guadeloupe. Die rund 500 Einwanderer aus der Normandie hatten es schwer, sich zwischen den schroffen Bergen im Süden und dem Mangrovensumpf im Osten gegen die feindselige indigene Bevölkerung zu behaupten. Die Gemeinde zählt heute rund 18'000 Einwohner und lebt nebst dem Tourismus vor allem vom Fischfang. Es wird auch nach Lambis getaucht – eine Meeresschnecke, die als Delikatesse gilt.

Hier besuchen wir das Musée du Rhum, das auf dem Gelände der Destillerie Reimonenq untergebracht ist. Reimoneq ist eine von noch sechs aktiven Destillen auf Guadeloupe, alle seit Generationen in Familienbesitz. Wir lernen, wie aus Zuckerrohr erst Melasse und dann Rhum entsteht, bestaunen die alte Destillieranlage und ein Modell einer Windmühle für das Auspressen des Zuckerrohrs. Über eine Treppe gelangen wir in den oberen Stock, der etwas unerwartet eine beeindruckende Insekten-Ausstellung beherbergt: Schmetterlinge und Käfer in allen Grössen, Formen und Farben. Bevor wir das Musée und die Destillerie verlassen, degustieren wir die verschiedenen Rhum-Erzeugnisse. Nur so viel: es gibt weissen Rhum aus dem Stahltank, den im Eichenfass gelagerten dunklen Rhum und den Rhum agricole, der sich durch seine Herstellung aus frisch gepresstem, unvergorenen Zuckerrohrsaft unterscheidet und unserer Laien-Meinung nach eher wie Grappa schmeckt.

Basse-Terre, der Verwaltungssitz des gleichnamigen Archipels, wurde 1643 gegründet. Es besitzt den zweitgrössten Hafen Guadeloupes, der von den Passatwinden gut geschützt liegt. Von hier aus wird die Bananenernte nach Europa verschifft. Die Stadt zählt lediglich 12.000 Einwohner, denn sie liegt am Fuss des Vulkans La Soufrière, mit 1467 Metern der höchste Berg der Kleinen Antillen, der letztmals 1977 eruptierte. Dabei mussten die damals 70.000 Basse-Terriens evakuiert werden, von denen nur die wenigsten zurückkehrten. Die Aussicht vom Kraterrand auf Basse-Terre ist sagenhaft, sagt man zumindest, denn als wir bei heftigem Wind oben ankommen, sehen wir nichts als weisse Nebelschwaden. Dafür finden wir in der Umgebung andere Juwelen wie den Saut d’Eau du Matouba, ein im üppigen Grün und bizarren Felsformationen versteckter Wasserfall. Oder die heisse Quelle des Rivière Grosse Corde, die über einen Trampelpfad im Wald frei zugänglich ist und in der uns beinahe Schwimmhäute wachsen.

Pointe-à-Pitre

Die Hauptstadt Guadeloupes wurde in ihrer Geschichte wiederholt von Epidemien und Naturkatastrophen heimgesucht: Cholera, Brände, Erdbeben und Orkane. Doch trotz wiederholter Dezimierung seiner Bevölkerung ist es das vitale Wirtschaftszentrum der Insel geblieben, mit internationalem Flug-, einem grossen Fracht- und einem Yachthafen, der Saint-Tropez betreffend Grössenordnung der hier vertäuten Boote in nichts nachsteht. Uns interessiert in erster Linie ein bestimmtes Museum. Jede Karibikinsel hat eine koloniale Vergangenheit, die auf dem Rücken afrikanischer Sklaven begründet wurde. Um mehr über die Geschichte der Sklaverei zu erfahren, besuchen wir das Mémorial ACTe, das Museum und Gedenkstätte zugleich ist.

Die Geschichte der Sklaverei wurde seit Menschengedenken geschrieben, doch erst mit Entdeckung der neuen Welt durch Christoph Kolumbus wurde sie organisiert und als wirtschaftlicher Faktor betrieben. Nachdem die Spanier und Portugiesen die indigene Bevölkerung für den Abbau von Gold versklavten hatten und die Insulaner in der Folge durch die zahlreichen kriegerischen Scharmützel sowie durch die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeit und durch eingeschleppte Seuchen beinahe vollständig ausgelöscht worden waren, erteilten die spanischen Könige Ferdinand von Aragon und Isabelle von Kastilien den Kolonien im Jahr 1501 die Erlaubnis, neue Arbeitskräfte in Form afrikanischer Sklaven zu «importieren». Es entstand bald ein lukrativer Dreieckshandel zwischen Europa – die Seemächte England, Frankreich und Holland waren mittlerweile ebenfalls eingestiegen – Westafrika und den Übersee-Kolonien. Dabei wurden Alkohol, Waffen, Vieh und Manufakturerzeugnisse an die afrikanische Westküste geschifft, mit den dort ansässigen Stammesfürsten gegen Sklaven gehandelt, die dann an die Siedler und Grossgrundbesitzer in Brasilien, den karibischen Inseln, Mittel- und Nordamerika verkauft wurden. Mit dem Erlös aus dem Sklavenhandel wurde wiederum Zucker, Tabak, Kaffee, Reis, Baumwolle und seltene Metalle gekauft und in die Alte Welt geschafft. Der grösste Anteil am Sklavenhandel hatten Portugal für seine ausgedehnten Zuckerrohrplantagen in Brasilien, gefolgt von Grossbritannien, Frankreich, Spanien, den Niederlanden und den USA. Ein Schiff fasste rund 300 Menschen, die die lange Überfahrt in Eisenfesseln, dicht an dicht kauernd oder liegend, erdauern mussten. Vom Beginn des atlantischen Sklavenhandels bis zu dessen Ende 1866 wurden rund 12 Millionen Menschen in die Sklaverei gezwungen – doch eine Vielzahl kam bereits vorher ums Leben. Man geht davon aus, dass für jeden verkauften Sklaven zwei oder drei die Überfahrt nicht überlebten.
Im Jahr 1685 erliess Colbert, ein Minister Ludwigs XIV., den „Code Noir“ – ein Dekret über den Umgang mit Sklaven in den französischen Kolonien. Es regelte die Rechte und Pflichten der Sklavenhalter und war bis 1848 in Kraft. Diesem zufolge war der Sklave kein Mensch, sondern eine Ware, die entsprechend verkauft und vererbt werden konnte. Im Code Noir wurden auch die Strafen für aufsässige Sklaven aufgeführt: Pflöcken und Auspeitschen standen für geringe Vergehen an, missglückte Fluchten konnten mit dem Abhacken eines oder mehrerer Gliedmassen bestraft werden. Samstags waren die Sklaven von der Feldarbeit entbunden, um ihre eigenen Gemüsegärten zu bestellen, und am Sonntag kamen die Herrschaften der kirchlichen Pflicht nach. In dieser Zeit konnten die Sklaven unbeobachtet die Gebräuche und Rituale der alten Heimat pflegen und an die christlichen adaptieren. Die meist von Sklaven organisierten Karnevals ermöglichten es ihnen, Kulthandlungen auszuüben, die für die weisse Herrscherklasse als solche nicht einfach zu erkennen waren.
Mit der Entdeckung der europäischen Runkelrübe als Zuckerlieferant und deren industriellen Verarbeitung ab 1807 verringerte sich der Bedarf an importiertem Zucker aus den Kolonien drastisch. Das hatte Auswirkungen auf den Sklavenhandel, da nun weniger Feldkräfte benötigt wurden. Ausserdem wurde im Zeitalter der Aufklärung erkannt, dass die Sklaverei – die bis dahin von der katholischen Kirche eifrig abgesegnet wurde – mit humanistischen Werten nicht vereinbar sei und so wurde die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei von Grossbritannien angestossen und auch von anderen europäischen Ländern übernommen. Einzig die USA, insbesondere die Südstaaten, hielten noch einige Jahrzehnte an der Sklaverei fest, bis die Abolitionsbewegung im Zuge des amerikanischen Sezessionskriegs der Sklaverei auch in den USA 1865 ein Ende bereitete. Dennoch dauerte die Rassentrennung in den Südstaaten der USA weitere hundert Jahre an und die Rassendiskriminierung bleibt bis dato auch ausserhalb von Amerika ein Thema. Und auch die Sklaverei hat überlebt. Sie existiert weiterhin überall auf der Welt. Auch in Europa. Allein in der Schweiz vermutet man rund 2’000 Menschen, die in sklavenähnlichem Zustand leben, meist Frauen im Sexmilieu. In vielen Krisenregionen werden Flüchtlinge – in der Regel Kinder und allein reisende Frauen – von Menschenhändlern an Adoptionswillige oder ins Sexmilieu verkauft, als Arbeitssklaven missbraucht oder in kriminelle Banden und Bettlerorganisationen geschleust.

Grand-Terre

Grande-Terre ist ein Abbild Südfrankreichs. Geruhsame kleine Dörfer mit einem zentralen Platz mit Sitzbänken unter schattenspendenden Bäumen, die Mairie (Ratshaus) an prominenter Lage, eine Boulangerie mit frischen Baguettes und Pains au chocolat und die Poststelle mit dem bekannten gelb-blauen Logo backen still in der Sonne. Die Landstrassen sind teilweise etwas holprig aber gut ausgebaut, die darauf verkehrenden Autos fast ausschliesslich Renaults und Peugeots. Selbst die Landschaft mutet provenzalisch an, ergänzt durch Zuckerrohr- und Bananenplantagen. Auf den Feldern stehen manchmal noch die traditionellen Ochsenkarren und alte Windmühlen pressen den Saft aus dem Zuckerrohr.

In Sainte-Anne spazieren wir den kilometerlangen Sandstränden entlang, beobachten die mit dem Wind tanzenden Kitesurfer und lassen uns in einer Schnupperstunde selbst vom Schirm über die Wellen ziehen. An den Wochenenden veranstalten Grossfamilien BBQs mit Campingtischen und Stühlen unter weissen Partyzelten oder im Schatten der Manzanillobäume. Diese zählen wegen der Toxine im Saft zu den giftigsten Bäumen der Welt, sind aber vorwiegend bei Regen gefährlich oder wenn man das Holz verbrennt (kann zur Erblindung führen). Kindern wird sehr früh beigebracht, die Früchte nicht zu berühren und keinesfalls zu essen.

Die wild zerklüftete Ostküste ist zum Baden weniger geeignet, bietet aber viele schöne Ausflugsziele wie zum Beispiel den Pointe des Châteaux mit Blick auf die Insel La Désirade oder die Porte d’Enfer, die Höllenpforte, wo meterhohe Wellen gegen die Felsen peitschen und die davonstiebende Gischt eine willkommene Abkühlung bietet.

Weiter im Landesinneren lockt Morne-à-l’Eau die wenigen Touristen nicht mit hübscher kolonialer Architektur oder ausgeprägter Kulturvielfalt, sondern mit seinem Friedhof. Der Cimetière de Morne-à-l'Eau ist nicht nur eine Stätte für die Toten, sondern eine eigentliche Totenstadt mit schwarz-weiss gekachelten Mausoleen, die sich verschachtelt und in mehreren Ebenen bis über die baumbekränzten Hügel fortzieht. Besonders zu Allerheiligen geben sich die Lebenden und die Seelen der Toten ein Stelldichein, dann werden zwischen Grabplatten, Kreuzen und Mausoleen Lichter angezündet, Blumen gesteckt, Picknicks veranstaltet und Erinnerungen ausgetauscht.

Guadeloupe ist tatsächlich eine sehr gelungene Symbiose aus karibischem Flair und europäischem Funktionalismus, in seiner Dimension überschaubar und trotzdem abwechslungsreich. Und nachdem wir die drei Monate zuvor unsere Spanischkenntnisse vertiefen konnten, gelang uns der Wechsel zum Französisch erstaunlich gut.

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