Fast täglich scheint die Sonne morgens über die Ruinen einer Kirche in unser Schlafzimmer hinein. Vor dem Haus parkt geduldig unser Bus, in eine für den Parkplatzbetreiber sonst schlecht nutzbare Ecke gezwängt, während wir die Stadt zu Fuss erkunden: Der Metekhi Strasse folgend runter zum Denkmal von König Vakhtang Gorgasali, der die Stadt im 5. Jahrhundert gründete, und weiter bis zur Metekhi Brücke. Dort überqueren wir waghalsig die sechsspurige Strasse und erreichen so die Altstadt. Hoch zur Betlemi Street kommen wir ins Schnaufen, werden aber belohnt mit dem Charme der verschachtelten Bauten aus Ziegeln und holzgeschnitzten Balkonen. Um die Ecke blendet uns die Sonne, die sich in den bunten Scheiben des historischen Holzhauses spiegelt. Wir schlendern an schiefen, teils baufälligen Häusern vorbei, entdecken immer weitere Malereien von Gosha - dem lokalen Street Art Künstler - und weichen Schlaglöchern und Hundekot aus. Hinter einer unscheinbaren roten Metalltüre und nur durch ein «open»-Leuchtschild als Laden erkennbar, versteckt sich unsere Lieblingsbäckerei. Hier machen wir Halt und warten an einem der beiden Tische im Blingbling-verzierten Raum, bis das Ajaruli Kachapuri fertig gebacken ist. Das georgische Fondue gehört zusammen mit Kinkhali, Wein und Chacha zur typischen Küche, der wir einen eigenen Blogbeitrag gewidmet haben.
Nach diesem deftigen Snack machen wir einen kurzen Abstecher zum fantastischen Clock Tower des Puppenmeisters Rezo Gabriadze, wo jede volle Stunde ein Engel die Glocke schlägt, und sinnieren über die in goldenen Lettern eingravierten Worte an der dahinterliegenden Fassade: «Lass uns nur noch Tränen vergiessen, wenn wir Zwiebeln schneiden.» Auf der elegant geschwungenen Friedensbrücke überqueren wir die Kura, die quer durch die Stadt fliesst, und erreichen wieder die linke Uferseite. Im Rike-Park mit den beiden prominenten Silberröhren besteigen wir eine Sechsergondel hoch zum Narikala. Mama Georgia wacht von hier aus über die Stadt, in der linken Hand Trauben für freundlich gesinnte Gäste, in der rechten das Schwert für die Anderen. Wir verzichten auf die Zipline, die Touristen in den Botanischen Garten runtersausen lässt, und gehen um den Hügel herum zur Narikala Kirche, die uns besonders gut gefällt. Von dort hat man einen wunderbaren Blick auf die Botanikuri Moschee und die Sulfur-Bäder mit den typischen Rundkuppeldächern, wohin wir unseren Spaziergang fortsetzen. Die Wendeltreppe bringt uns in die Schlucht mit dem Wasserfall und den dort wartenden Musikanten, die aufspielen, wenn sie einen erblicken, und gleich wieder aufhören, wenn sie erkennen, dass wir ihren Hut ignorieren. Der Schwefelgeruch der Bäder begleitet uns noch eine Weile auf dem Weg zurück zum Meidan-Platz vor der Metekhi Brücke. Dort biegen wir in die Fussgängerzone, wo sich Restaurants und Bars dicht aneinanderdrängen, viele ausgestattet mit Wärmelampen, damit man auch bei einstelligen Temperaturen draussen sitzen und eine Shisha paffen kann. Etwas weiter kommt die Sioni Kirche, die mit ihren für orthodoxe Kirchen typischen, goldbeladenen Heiligenbildern und den vielen Kerzenschalen zum Staunen und stillen Verweilen einlädt. Gläubige küssen Mauern und Ikonen und manchmal sorgen Chorgesänge für Hühnerhaut. Die Heilige Dreifaltigkeitskirche Sameba, das grösste Gotteshaus in Georgien und die dritt grösste orthodoxe Kirche der Welt, scheint omnipräsent in der Stadt. Von Westen durch das Haupttor kommend thront der gelbe Prunkbau 48 Treppenstufen über uns. Die Kathedrale wurde 2004 fertiggestellt und von einem russischen Privatmann finanziert – um die georgische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Ein Ablasshandel besonderer Grössenordnung.
Auf dem Weg zurück zu unserer Wohnung passieren wir kleine Verkaufsstände, die Mandarinen, Gemüse, Fisch, Käse, Wein und Tschurtschchela (eine Art georgisches Snickers) verkaufen - in eingedicktem Fruchtsaft getunkte Walnüsse in allen Geschmacksvariationen und Farben. In einer der vielen kleinen Bäckereien kaufen wir Brot (Shoti genannt), das im traditionellen Rundofen über der Glut gebacken wird.
Das Treppenhaus zu unserer Wohnung ist wenig einladend. Die Betonstufen sind auf zwei Stahlträger gelegt, jede Stufe mit unterschiedlicher Höhe. Von der einen zur nächsten klaffen Risse. Doch unsere 3 ½ Zimmer Wohnung im zweiten Stock ist freundlich und grosszügig und wir geniessen den Luxus einer täglichen Dusche und einer geräumigen Küche mit Backofen und grossem Kühlschrank.
Wenn wir nicht selbst kochen, besuchen wir eines der zahlreichen Restaurants. Wir lieben die Aristaeus Ethno Wine Bar, die wir wegen der gemütlichen Einrichtung nur «Die Stube» nennen, und wo freitags und samstags ein Quartett ergrauter Herren vielstimmig georgische Volkslieder zum Besten gibt. Oder das Organic Josper mit seiner international ausgerichteten Fleischküche. Unser Lieblingscafé Leila hat guten Cappucchino und unglaublich leckere Kakluchas, in Caramel glasierte Nusskugeln. Und im Pasanauri gibt es die saftigsten Kinkhali (gefüllte Teigtaschen).
Weiter weg gelegene Stadtteile erreichen wir mit der Metro ab der Station Avlabari. Zwar gibt es sowohl offizielle Busse als auch unzählige private Minibusse, aber einen Plan, welche Linie einen wohin bringt, existiert nicht. Die Metro kennt nur zwei Linien, fährt schnell und zuverlässig alle drei bis fünf Minuten und ist mit rund 17 Rappen auch sehr preiswert. Sehenswürdigkeiten, die abseits der Metro-Linie liegen, wie beispielsweise das Denkmal “Chronicle of Georgia” oder die frühere Hauptstadt Mtskheta, erreichen wir per Taxi. Mit der Bolt-App können wir mühsame Preisverhandlungen umgehen und uns von jedem gewünschten Standort abholen lassen. Eine halbstündige Fahrt kostet dabei ca. 8 Franken.
Nun, nach neun Wochen Tiflis mit seinen etwas verschrobenen Bewohnern und anstrengenden Tourenverkäufern («Take a boat trip, only half a hour and free wine»), in dieser wunderbaren Stadt mit ihren bewohnten Hausruinen und supermodernen Glaspalästen, mit Kunst an jeder Ecke und ebenso offensichtlicher Armut, wo alles etwas anders funktioniert, aber eben doch funktioniert, wo wir viel gelernt (hinter die Kulissen zu blicken) und gelacht haben, wo wir die beste Party seit Jahren feierten und am Folgetag merkten, dass wir nicht unsterblich sind, ziehen wir weiter gegen Osten. In Baku (Aserbaidschan) setzen wir mit der Fähre übers Kaspische Meer nach Kasachstan und Zentralasien, dem wichtigsten Knotenpunkt der sagenumwobenen Seidenstrasse, weiter auf den Spuren Marco Polos.
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