In Georgien wird viel von Gastfreundschaft geredet, in Aserbaidschan wird sie gelebt: In den ersten fünf Tagen wurden wir fünf Mal zu Tee und Essen eingeladen. Gleich am ersten Tag half uns Roma, selbsternannter Forsthüter von Lekit, einen Platz zum Übernachten im Wald zu finden. Ein glücklicher Umstand - wir wären dem schlammigen Kuhpfad in den Wald sonst kaum gefolgt. Am nächsten Morgen erwartete er uns mit einem dampfenden Samovar für Tee und selbstgemachter Kornelkonfitüre mitten im Wald, wo er im Sommer einen Picknickplatz für Touristen auf dem Weg hoch zum Wasserfall unterhält. Obwohl die Sonne bald durch die nackten Bäume schien, war es auf den niedrigen Holzstühlen recht kalt. In gebrochenem Englisch und minimalem Russisch konnten wir uns über seine Familie und seine Erfahrung als Soldat und Fernbusfahrer unterhalten.
Die Hauptsprache ist Aserbaidschanisch, eine Turksprache, aber viele Menschen sprechen auch Russisch oder einige Brocken Englisch. Im Hostel von Sheki unterhielten wir uns mit anderen (einheimischen) Gästen in einem Gemisch aller drei Sprachen, das Mobiltelefon mit der Voice-Übersetzung immer unterstützend zur Hand. Mailen (Mai) aus Argentinien – seit Georgien unsere erste Reisebekanntschaft – genoss es sichtlich, mit Michael etwas Spanisch zu sprechen.
Ursprünglich hatten wir Aserbaidschan nur als Transitland vorgesehen, nachdem wir die Visa-Anträge für den Iran zurückgezogen hatten. Doch der Blick in den verschneiten Kaukasus und die wirklich offenherzigen und hilfsbereiten Menschen liessen uns länger verweilen. Die noch winterlich-karge Landschaft lässt schon erahnen, welche Pracht hier im Sommer zu erwarten ist. Die Nächte waren noch immer empfindlich kühl, so dass wir beschlossen, in Hostels zu übernachten. Nicht, dass die Zimmer dort wärmer wären, aber immerhin bescherten sie uns etwas mehr Bewegungsfreiheit. Und mit drei Decken und der Standardbekleidung inklusive Strickmütze und Schal hielten wir es gut aus.
In Ismailli begegneten wir Mai wieder und gemeinsam fuhren wir in die Berge nach Lahic, einem Dorf, das für seine Kupferschmiedekunst bekannt ist. Wir übernachteten bei Nicat und seiner Familie und vertrieben uns die Zeit bis zum Essen mit Würfeln im Kerzenschein, denn eine Lawine hatte einen Strommast umgeknickt. Pünktlich zum Essen (das auf der Gasflamme gekocht wurde) kam der Strom zurück.
Bevor wir nach Baku, Aserbaidschans Hauptstadt, fuhren, wollten wir in die Berge im Norden. An einer einsamen Bushaltestelle liessen wir Mai aussteigen. Sie wollte auf ihre gewohnte Art weiterreisen: per Autostop. Wir staunten nicht schlecht, als sie uns keine zehn Minuten später aus einem überholenden Fahrzeug zuwinkte. Die Landschaft, die an uns vorbeizog, war wenig attraktiv. Auch der Blick auf das Kaspische Meer konnte nicht über die mit Plastikmüll übersäten Felder hinwegtrösten. Und weil wir auf 90 Kilometer kein einziges Hostel fanden, fuhren wir schliesslich bis nach Quba, einer grösseren Stadt auf dem Weg in den Kaukasus. Der einsetzende Schneefall verwandelte die Umgebung in eine Märchenlandschaft, und wir freuten uns auf zwei Tage im Shahdag Mountain Resort. Bei strahlendem Sonnenschein erreichten wir gegen Mittag den Hotelkomplex, der ein Skisportgeschäft und verschiedene Restaurants und Cafés beherbergt und Ausgangspunkt aller Skilifte ist. Wir nutzten die Gelegenheit und mieteten für zwei Tage eine Skiausrüstung. Das funktionierte absolut professionell: zuerst registrierten wir uns am PC und gaben Daten wie Körpergrösse, Gewicht und Fahrfähigkeit ein. Danach folgte die Bezahlung via Kreditkarte. Mit der Quittung bezogen wir erst die Skischuhe und dann Ski und Stöcke. Die Bindung wurde aufgrund der erfassten Daten eingestellt und wenige Minuten später sassen wir schon auf dem Sessellift. Die Pisten waren perfekt präpariert, die Lifte top modern und die Aussicht grandios. Und kaum Touristen! Kein anstehen, kein warten und auf der Sonnenterrasse auf 2351 Meter fanden wir sofort ein gemütliches Plätzchen, um uns mit Bier und Kuchen zu erfrischen. Gerade, als wir die letzte Abfahrt in Angriff nehmen wollten, hörten wir schweizerdeutsche Wortfetzen. Wir kamen ins Gespräch mit Brigitte und Martin und verabredeten uns für den nächsten Tag. Seit Bosnien und Herzegowina haben wir keine Schweizer mehr getroffen, so genossen wir den Austausch in der Muttersprache umso mehr. So sehr, dass wir uns auch in Baku nochmals trafen.
Auf der Fahrt nach Baku bemerkten wir unzählige Streifenwagen und Militärs, die alle paar hundert Meter am Strassenrand Stellung bezogen hatten. Später erfuhren wir, dass der Ministerpräsident ebenfalls in Shahdag weilte und am selben Tag wie wir auf dem Weg zurück in die Hauptstadt war. Wir wurden von heftigen Windböen geschüttelt und von röhrenden Ladas überholt, die aufgrund ihrer Ladung aus Äpfel und Zitrusfrüchten tief in den Federn hingen und es in Sachen Bodenfreiheit mit jeder Sportkarrosse aufnehmen können. Die letzten Kilometer Fahrt gehörten zu den schlimmsten bislang: von allen Seiten drängten Fahrzeuge in jede noch so kleine Lücke und auf der dreispurigen Strasse bewegten sich fünf Autoreihen in Richtung Zentrum. Wir mussten die Hupe noch nie in so kurzer Zeit so oft gebrauchen. Crazy Azeris!
Bisher wussten wir von Baku nur, dass die Stadt 2012 Gastgeberin des Eurovision Song Contest war. Doch sie hat mehr zu bieten: weite Avenuen, gepflegte Gärten, Prachtbauten aus gelbem Sandstein, eine durch die UNESCO und meterdicke Mauern geschützte Altstadt - mit schmalen Kopfsteinpflastergassen, schönen, mehrgeschossigen Häusern mit verzierten Erkern und Holztüren, futuristischen Hochhäuser und architektonischen Perlen wie den Flame Towers und dem Heydar-Aliyev-Zentrum der verstorbenen Stararchitektin Zaha Hadid sowie eine herrliche Promenade am Ufer des Kaspischen Meer. Die ganze Stadt strotzt nur so vor wirtschaftlicher Vitalität, genährt vom schwarzen Gold aus tausenden Ölfördertürmen.
Unser Airbnb-Vermieter führte uns an einem Tag zu den nahe gelegenen Sehenswürdigkeiten: dem Feuertempel Ateschgah und dem “Brennenden Berg”. Beide Attraktionen werden von austretendem Gas gespiesen, das seit Jahrhunderten brennt. Ateschgah galt lange als einer der wichtigsten Hindutempel ausserhalb Indiens. Später wurde hier auch der Zoroastrismus praktiziert, eine ursprünglich aus dem Iran stammende, einstmalige Weltreligion. Die Flammen des Feuertempels erloschen in den 1960er Jahren. Für den späteren Besuch des Staatspräsidenten wurden extra Gasleitungen gelegt, um die heiligen Flammen wieder aufleben zu lassen.
Die geplante Weiterreise nach Kasachstan gestaltete sich schwierig, denn die Massnahmen zur Eindämmung des Corona Virus führen rund um das Kaspische Meer zu restriktiven Einreisebestimmungen, beziehungsweise zur Schliessung von Grenzübergängen. Zudem sind verlässliche Informationen nur mühsam zu beschaffen und sie ändern beinahe stündlich. Aus staatlichen Quellen ist wenig zu erfahren, aber die sozialen Medien und die verschiedenen Blogs anderer Reisender helfen weiter. Hier ein Abriss der letzten Tage:
Dienstag: Wir fuhren von Baku nach Alat (70 km) und deckten uns für die Wartezeit am Fährhafen und die Überfahrt nach Kasachstan mit Lebensmittel ein. Noch unterwegs erreichte uns die Nachricht von Anja und Joel (ebenfalls Schweizer Overlander), dass Kasachstan eine 14-tägige Quarantäne für Reisende aus Aserbaidschan verhänge. Am Hafen wurden wir abgewiesen - es verkehre keine Fähre für mindestens 14 Tage. Wir fuhren am gleichen Tag wieder zurück nach Baku. Einziger Erfolg an diesem Tag: unser frisch gewaschene Bus.
Mittwoch: Die Réceptionistin rief beim Hafen an und erfuhr, dass zwar Fähren ablegen, jedoch nur Passagiere und Lastwagen mitgenommen würden, keine privaten Fahrzeuge.
Donnerstag: Auf der russischen Botschaft erhielten wir nach zweimaligem, hartnäckigem Nachfragen die notwendigen Informationen, um den Antrag für das Visum korrekt auszufüllen. Wir würden es erst am Dienstag einreichen können und stellten uns auf ein weiteres Wochenende in Baku ein.
Freitag: Per Mail informierte uns eine Hafenmitarbeiterin, dass am Vortag drei Fähren abgelegt und auch private Fahrzeuge mitgenommen hätten. Die Schiffe würden für den nächsten Tag zurückerwartet.
Samstag: Wir fuhren erneut nach Alat, doch es waren keine Schiffe eingetroffen. Aufgrund starker Winde würden keine vor Montag ankommen. Da wir nicht auf das Hafengelände gelassen wurden, checkten wir bei einem nahe gelegenen Hotel ein. Dort trafen wir auf drei Velofahrer aus Belgien und Frankreich, die ebenfalls auf eine Überfahrt warteten.
Sonntag: Immer noch keine Schiffe, aber wir durften in das Hafengelände, um zu warten. Die Velofahrer konnten sich registrieren, bei uns hiess es: Kasachstan lässt keine privaten Fahrzeuge rein.
Montag: Während die drei Velofahrer auf Dienstag vertröstet wurden, blieb die Haltung der kasachischen Zollbehörden betreffend privater Fahrzeuge unverändert. Wir fuhren abermals zurück nach Baku und beantragten am Folgetag das Touristen-Visum für Russland.
Mittwoch: Gewährt wurde uns schliesslich ein Transitvisum für 7 Tage und wir konnten endlich unsere Weiterfahrt angehen.
Aserbaidschan hat uns sehr positiv überrascht: von den in etlichen Reiseforen erwähnten Polizeischikanen blieben wir verschont, dafür wurden wir mit viel Aufmerksamkeit und Herzlichkeit umsorgt. Wir wurden mehrmals zum Essen und zu Wodka eingeladen, nach einem Einkauf sogar im Lagerraum eines Supermarktes bewirtet, Tanja erhielt am Weltfrauentag eine Rose geschenkt und viele, auch kurze Bekanntschaften, halfen uns mit Übersetzerdiensten und erkundigten sich immer wieder nach unserem Wohl und ob die Weiterreise denn nun geklärt sei.
Mittlerweile haben wir Aserbaidschan tatsächlich hinter uns gelassen und befinden uns bereits in den sandigen Weiten Kasachstans.
Weitere Bilder zu Aserbaidschan finden sich in der Fotogalerie.