Vancouver
Im Wasser spiegelt sich die Abendsonne. Die Lichtreflexe werden von unzähligen Baumstämmen unterbrochen, die in den nahen Bergwäldern geschlagen und zum Wasser transportiert wurden, um auf dem Fraser River bis zur Mündung des Pazifiks zu flössen. Und dann erhaschen wir beim Landeanflug einen ersten Blick auf Vancouver. Die stressige Reise mit Sprint durch den Flughafen München ist spätestens im Three Kittens Guesthouse im Vorort Burnaby vergessen. Wir entdecken die schönsten Ecken von Vancouver dank unserer persönlichen Reiseführerin Barbara, die bereits acht Wochen in der grössten Stadt British Columbias verbrachte und sich sofort für die Idee begeisterte, ihre drei Sommerferienwochen mit uns zu verbringen. Sie zeigt uns die eindrücklichen Herrschaftshäuser im West End, findet den Weg durch den riesigen Stanley Park bis zu den berühmten Totempfählen, kennt die besten Restaurants am Canada Place, nimmt den richtigen Bus nach Granville Island und erfreut sich ebenso wie wir an den Kursschiffchen des False Creek, die an Chilbi-Tütschautos erinnern und uns nach Yaletown schippern. Wir schlendern durch das quirlige Gastown und bewundern auf dem Weg nach North Vancouver die Skyline von der Personenfähre «Seabus» aus. Völlig entspannt erkunden wir die grüne Stadt; an jeder Ecke finden sich Pärke und Bänke, Bäume säumen die Strassen und auch die kleinsten Vorgärten prahlen mit ihrer Blumenpracht.
Da der Weg zum beliebten Quarry Rock gesperrt ist, wandern wir stattdessen durch den Lynn Canyon. Für den Mut die wacklige Hängebrücke zu überqueren, werden wir mit einer Erfrischung im 30-Foot-Pool belohnt – wobei der Ausdruck «Ein Bad in der Menge» eine ganz neue Bedeutung gewinnt. Auf dem Rückweg besteigen wir den Bus und erfreuen uns erneut am netten Umgang der Kanadier mit ihren Mitmenschen. Grundsätzlich wünscht man sich in Kanada nicht nur einen Guten Tag, man bedankt sich ausserdem beim Chauffeur für die Fahrt. Die folgende Episode aber ist wirklich herzerwärmend: Eine Jugendliche schiebt den Rollstuhl mit ihrem jüngeren Bruder an den dafür vorgesehenen Platz im Bus und setzt sich ihm gegenüber. Er zieht am Strohhalm seines Softdrinks, sie schleckt an ihrem Eis am Stiel. Nach einigen genussvollen Minuten meint er zu ihr: Gott sei gedankt, dass es die öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Stell dir vor, es gäbe keine Busse. Sie lächelt und beschäftigt sich weiter mit ihrem Eis, das bei der Hitze schneller schmilzt, als sie essen kann. Während sie vergebens versucht, nicht auf ihre Shorts zu tropfen, legt ihr ein Mitpassagier ein Taschentuch auf den Schoss und wünscht ihr weiterhin guten Appetit.
Vancouver Island
Es gäbe noch viel zu entdecken im multikulturellen Vancouver, doch am vierten Tag packen wir unsere Taschen ins Mietauto und lassen uns von Horseshoe Bay aus mit der Fähre nach Nanaimo bringen. Vancouver Island sieht auf der Landkarte verschwindend klein aus, ist aber mit 31'285 km2 grösser als Belgien. Wir folgen der Ostküste hoch bis nach Campbell River, wo sich die gigantischen Kreuzfahrtschiffe auf ihrem Weg nach Alaska durch die Strait of Georgia schlängeln. Wir erkunden den Elk Falls Provincial Park – leider ohne, dass wir die im Namen verheissenen Hirsche gesehen hätten. Und auch für die Lachse, die im Herbst schwarmweise die Flüsse hochschwimmen, sind wir zu früh. Doch tosende Wasserfälle, eine hoch über der Schlucht gespannte Hängebrücke und ein Sprung ins kühle Nass perfektionieren den Tag.
Als verspätetes Hochzeitstaggeschenk verbringen wir vier Tage in Port Alice, das an der Westküste liegt. Captain John schippert mit uns durch den Fjord und offenbart uns eine vielseitige Tierwelt: Riesige Lachse an unseren Angelruten, auf dem Rücken schwimmende Seeotter, Seehunde, die sich auf den Felsen fläzen, und Grauwale, die ihre Fontänen direkt neben uns in den Himmel schicken. Ein Weisskopfseeadler holt sich die Fischgräte, die wir ihm an den Strand legen. Majestätisch, mit vorgestreckten gelben Fängen, landet er nur wenige Meter von uns entfernt und vertreibt die Möwen und Krähen, die sich zwar immer wieder wagemutig nähern, aber letztlich leer ausgehen.
Einige Tage später folgen wir dem Pacific Rim Highway von Port Alberni aus nach Ucluelet, Barbaras Lieblingsplatz. Ein Bild der knorrigen Bäume und der wilden Gischt hängt seit ihrem ersten Kanada-Besuch als Grossdruck in ihrer Wohnung, doch kein Bild kann die vor Ort erlebten Eindrücke und Emotionen ersetzen. Vom Meer her kriechen Nebelschwaden auf uns zu und fast erwarten wir, dass die Black Pearl mit Captain Jack Sparrow auftaucht. Als die Glocke des Leuchtturms den Schiffen den Weg zurück in den sicheren Hafen weist, ist die mystische Stimmung vollkommen.
Wer auf Vancouver Islands Pazifikseite reist, muss viel Zeit einrechnen. Die Strassen führen immer zuerst ins Inselinnere oder gar an die Ostküste, wo der Inland Island Highway die unbestrittene Hauptachse bildet. Von Ucluelet nach Bamfield sind es zum Beispiel keine 33 km Luftlinie, aber die Strecke führt über Port Alberni und so zieht sich die Fahrt über 190 km lang. Dafür bietet sich entlang der Strassen immer wieder Gelegenheit für einen kurzen Trail durch den Wald. Meist führen Holzstege und Treppen bequem zwischen den urzeitlichen Riesen durch und über einen Wirrwarr von Wurzeln und Farnen.
Ganz im Süden der Insel liegt Victoria, die Hauptstadt von British Columbia. Sie besticht mit alten Ziegelsteinhäusern, einer prächtigen Hafenpromenade und dem Fairmont Empress Hotel, das leider leicht über unserem Budget liegt. Wir nächtigen etwas ausserhalb und verbringen mehr Stunden an steinigen Stränden mit Blick auf die nahe US-Küste als in aufgeplusterten Restaurants und erkunden mehr Pfade durch den Wald als durch die Souvenirshops. Michael macht die unfreiwillige Bekanntschaft mit einem singenden Zahnarzt, der ihm nicht nur sprichwörtlich auf den Zahn fühlt. Die Gewässer um Victoria sind für ihre grosse Walpopulation bekannt und auch wir halten nach den typischen Blas Ausschau. Unsere Hoffnung, Orcas zu sehen, wird leider nicht erfüllt, dafür schwimmen Buckelwale direkt auf uns zu und auf einem Felsen markieren grunzende Seelöwen und bellende Seehunde ihr Nachtquartier.
Auf der Fähre bekommen wir einen ersten Eindruck, weshalb die Inside Passage hoch nach Prince Rupert als eine der schönsten Schifffahrten überhaupt gilt. Wir belassen diese vorerst auf unserer Bucket List und geniessen einen letzten Abend zu dritt in Vancouver.
Die nächsten Tage checken wir die Online-Inserate nach einem passenden Fahrzeug für die Fahrt quer durch die Rocky Mountains bis nach Saskatchewan. Surrey, ein Vorort Vancouvers, scheint die meisten Car Dealer unserer Preisklasse zu vereinen. Bei «Joe Motor Ltd.» werden wir fündig.
Mehdi und Mike, beide ursprünglich aus dem Iran und erst seit einigen Jahren in Vancouver, haben sich auf den Handel mit gebrauchten Vans spezialisiert. Eine kleine Holzhütte mit vier Räumen, einer Veranda und meist offenen Glastüren beherbergt einige einfache Holztische, Bürostühle mit Gebrauchsspuren und ausrangierte Autositzbänke als Sofas für die Kundschaft. Während wir den Papierkram für unseren Chevrolet Express Passenger Extended erledigen und auf den Versicherungsdealer warten, serviert uns Mike ein Safran-Hähnchen vom Grill mit Joghurtsauce und Reis. Der Name des Versicherungsvertreters ist Jake Lee, ein Festlandchinese der zweiten Generation. Tanja übernimmt die Übersetzung, da Michael nicht in der Lage ist, Jakes Englisch zu verstehen, das sich anhört als würden seine Worte an einem heissen Dim Sum vorbei durch die Gesichtsmaske gequetscht.
Whistler und Umgebung
Einigen wird Whistler von den Olympischen Winterspielen 2010 noch ein Begriff sein. Nur 90 Minuten nördlich von Vancouver gelegen ist es für uns die geeignete Destination für eine erste Testfahrt mit dem Van. Mit etwas Glück finden wir einen Platz im Cal Cheak Callaghan Camp, das nach dem first come, first serve-Prinzip funktioniert. Von hier aus folgen wir dem wilden Cheakamus River zu den Brandywine Falls, immer brav mit Bärenglocke und -spray ausgerüstet. Trotz Hauptsaison begegnen wir nicht vielen Menschen und weder Schwarz- noch Grizzlybären.
Die Verbindung aus Geschichtszeugnis und urbaner Kunst findet sich in Form von sieben demolierten Bahnwaggons inmitten des Waldes auf dem Train Wreck Trail. Die Waggons wurden nach einer Zugentgleisung im Jahr 1956 rund 100 Meter von den Schienen wegtransportiert und dienen seither innen wie aussen als Leinwand für Graffitis.
Unser Van und die bescheidene Einrichtung (Schaumstoffunterlage, Matratzentopper, Schlafsäcke und Campingzubehör) bestehen den Test und wir orientieren uns von nun an ostwärts, Richtung Saskatchewan.
Okanagan Valley
Die Rebberge ziehen sich über die trockenen Hügel des Similkameen Valleys, das noch weit vor dem eigentlichen Okanagan Valley liegt. Wir machen einen Abstecher in die Corcelettes Estate Winery, die uns mit gradlinigen Weinen und einem wirklich hübschen Anwesen überzeugt. Sie ist von Schweizern geführt und uns von deren kanadischen Nichte über eine schottische Freundin Tanjas empfohlen worden. Die hohen Temperaturen in Kombination mit fehlender Kühlmöglichkeit lassen uns vernünftig sein und nur zwei Flaschen mitnehmen, die dann – ebenfalls vernünftigerweise – rasch getrunken sind. Und erst noch in guter Gesellschaft, auf dem Überlaufparkplatz des Ellison Campgrounds treffen wir Ron und Diane.
Das sympathische Paar lebt eigentlich an Kanadas Ostküste, doch im Sommer sind sie meist mit ihrem Camper Van unterwegs und bereisen das Land. Sobald der erste Schnee droht, fahren sie runter nach Florida, um in ihrem Haus in „The Villages“ zu überwintern.
Diane spricht noch das alte Französisch der Arcadiens – das sind die Nachkommen französischer Siedler aus dem ehemaligen Poitou, der Bretagne und der Normandie, die sich im 17. Jahrhundert in der damaligen französischen Kolonie Akadien niedergelassen hatten (entspricht in etwa den heutigen Provinzen Nova Scotia, New Brunswick und Prince Edward Island sowie den Norden des US-Bundesstaates Maine).
Das Okanagan Valley erstreckt sich von Osoyoos rund 175 km nach Norden und gehört mit der Niagara-Halbinsel zu den grössten Weinbaugebieten Kanadas. An zahlreichen Verkaufsständen am Strassenrand findet man nebst Trauben auch Aprikosen, Pflaumen, Äpfel und Kirschen. Und eingelegte Spargeln, hausgemachte Saucen und Konfitüren jeglicher Geschmacksrichtung. Wir hinterlassen eine Spur von ausgespuckten Kirschsteinen auf dem Weg zu einem weiteren Weingut. Die Vibrant Vine Winery ist gleichzeitig Kunstgalerie, denn an den Wänden hängen farbenfrohe Bilder und auch die Flaschen zieren kunstvolle Etiketten. Beim Degustieren erzählt man uns die Geschichte, wie eine der ersten Weinabfüllungen zufällig prämiert wurde: Eine Studentin wurde mit dem Etikettenkleben beauftragt. Nach rund 300 Flaschen bemerkte sie, dass sie die Etiketten kopfüber angebracht hatte. Statt diese mühsam wieder abzuklauben, gestaltete sie die restlichen Flaschen – insgesamt 3'000 an der Zahl – ebenso verkehrt und der Wein bekam den neuen Namen «Whoops». Die kreative Flasche wurde an einen Design-Wettbewerb eingereicht, doch statt einer leeren Flasche sendete man versehentlich sechs Volle, die die Designjuroren pflichtschuldig an den Degustations-Wettbewerb weiterleiteten, der gleichzeitig ebenfalls in Genf stattfand. Und der Wein gewann – zwar keinen Designpreis, aber immerhin! Die hübsche Geschichte kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der aus sechs (!) Traubensorten assemblierte Wein ziemlich künstlich schmeckt.
Alberta
Weiter Richtung Osten überqueren wir erst die Zeit- und nach einem ungeplanten, aber sehenswerten Umweg durch den Kootenay National Park, auch die Provinzgrenze. Damit erreichen wir die Rocky Mountains, eine Gebirgskette, die sich von Kanada aus 4'500 km bis New Mexico im Süden der USA erstreckt. Erkundigt man sich nach den besten Parks in Kanada, werden immer wieder Banff und Jasper genannt. Dazu kommen Lake Louise, Moraine Lake, der Parkfield Highway und der Abraham Lake. Wir haben sie alle gesehen – und ja, sie sind so schön, wie uns alle vorschwärmten. Immer wieder begegnen wir auf Wanderungen den Kanada-roten Stühlen, die an über 100 Stellen in den Nationalparks platziert sind.
Am Abraham Lake – übrigens Kulisse im Film «The Revenant» – lernen wir Hank und Henrietta kennen. Wir werden abends in ihren Trailer mit ausfahrbarem Mittelteil, gemütlichen Sofa und dicken Sesseln zum Tee empfangen. Hank wanderte als 19-jähriger Jungspund Ende der 50er Jahre nach Kanada aus, weil er sich als einfacher Landarbeiter und Sohn einer 10-köpfigen Familie in der Heimat kein Land leisten konnte. Er heiratete Henrietta, deren Eltern ebenfalls aus den Niederlanden zugewandert waren. Die beiden pachteten mit finanzieller Starthilfe einer Farmers Cooperation etwas Land und kauften Geräte und Saatgut. Ihr erstes gemeinsames Häuschen zimmerten sie mit eigenen Händen. Fliessend Wasser gab es nicht, es musste vom selbst gegrabenen Brunnen hergeschafft werden, geheizt wurde mit Holz. Die Felder bearbeiteten sie erst mit eigener Muskelkraft und später mithilfe einfacher und reparaturanfälliger Traktoren. Um zu den weiter entfernten Feldern zu gelangen, mussten sie eine mit Seilzug betriebene Bootsfähre über den Fluss benutzen. Sie werkten biblische sechs Tage die Woche, zahlten die Schulden ab und sparten Geld an. Mit der Zeit konnten sie das gepachtete Land kaufen und sich grössere Maschinen anschaffen. Heute besitzen sie eine mittelgrosse Gemüsefarm, wo sie Herbstrüben, Kohlrabi und Pastinaken anbauen, verfügen über modernste Landmaschinen, Kühlhallen und Verpackungsanlagen, haben vier erwachsene Kinder (der eine Sohn hat mittlerweile die Leitung der Farm übernommen) und 13 Enkel, zudem beschäftigen sie zehn mexikanische Arbeiter.
Wir folgen ihrer Einladung nach Edson, um auf ihrem Hof zu übernachten – sofern man bei einem halbstündlich vorbeiratternden zwei Kilometer langen Güterzug, der seine Durchfahrt mit ohrenbetäubenden Hornsignalen ankündigt, von Schlaf sprechen kann. Unausgeruht aber munter folgen wir Hank und Henrietta zum sonntäglichen Gottesdienst in die Edson-Peers Christian Reformed Church, der Kirche der Dutch Community. Alle hier sind Kanadier der ersten bis dritten Generation mit niederländischen Wurzeln und calvinistisch-religiösem Hintergrund. Die meisten Versammelten sind Farmer. Hank betont immer wieder die Bedeutung der calvinistischen Ethik und Arbeitsmoral für ihr Leben: Obwohl der Mensch keinerlei Einfluss darauf habe ob er von Gott auserwählt sei, so könnten tugendhafte Lebensführung, nie nachlassender Fleiss und (nicht zur Schau getragener) Erfolg doch als Zeichen für den Gnadenstand gewertet werden. Nach dem Gottesdienst wird Tee und Kaffee getrunken und über Gott, Arbeit und die Welt geplaudert. Dabei erzählt Henrietta, wie sie im Anschluss an den Gottesdienst einen Freund zum Supper eingeladen hatten und die Zeit bis zu dessen Eintreffen für einen kurzen Snooze (Nickerchen) nutzten, als sie schwere Tritte auf der Veranda hörten. „Frank, you’re early, we’re still resting“. Frank entpuppte sich als Schwarzbär, der auf der Suche nach der Quelle des verführerischen Dufts eines vor sich hin köchelnden Eintopfs an der offenen Schlafzimmertüre vorbei in Richtung Küche trottete.
Nach den kurvigen Panoramastrassen in den Rockies langweilen uns die endlosen Highway-Kilometer Ost-Albertas – rechts und links nichts als Bäume und Felder. Der Pembina River bringt eine willkommene Abwechslung auf dem Weg nach Edmonton, wo wir das erste Mal wieder in einem richtigen Bett schlafen und den Van einer Entstaubungskur unterziehen.
Die letzte Station in Alberta ist der Elk Island National Park, der entgegen seinem Namen eher für seine Bisons bekannt ist. Es gibt die grösseren Waldbisons, für die wir einem 16 km langen Trail durch Birkenwälder folgen und sie dann tatsächlich am Wendepunkt äsen sehen, und die Präriebisons, die bequem vom Auto aus beobachtet werden können. Die ersten Anzeichen von Herbst liegen in der Luft, die Nächte werden merklich kühler und wir sehnen uns nach unserem daheimgebliebenen Campervan mit Heizung. Die Tage aber sind nach wie vor herrlich und wir wandern entlang der zahlreichen Seen mit Schilfgürteln und Biberbauten.
Saskatchewan
Etwas nervös biegen wir in die Auffahrt der Winning Ways Ranch ein, unserem Wohn- und Arbeitsort für die kommenden zwei Monate. Alex und Luvic, die beiden Ranch-Hunde, begrüssen uns neugierig und Kelly lässt uns gleich die Pferde satteln. Unsere neuen Cowboystiefel lassen uns zwar nicht besser reiten, aber immerhin besser aussehen. Während der intensiven Wochen hier haben wir jedoch viel Gelegenheit, auch an unseren Reitskills zu arbeiten: Wir treiben zwei Bullen auf eine entfernte Weide, separieren Kälber von den Mutterkühen, begleiten Kinder in der Reitstunde, reiten zu entlegenen Weiden um nach entlaufenen Kühen zu suchen und um Zäune zu reparieren und geniessen zahlreiche Ausflüge in die naheliegenden Wälder und zum Nesset Lake. Nach wenigen Tagen kennen wir die Pferde und Hof-Tiere beim Namen und die täglichen Chores auswendig. Dazu gehört auch Buffy, ein Waldbisonweibchen, das sich gerne hinter den Ohren kraulen lässt. Wir teilen uns die Aufgaben mit Béatrice - Französin und begnadete Köchin und Bäckerin. Zu dritt erkunden wir die Umgebung in den wenigen freien Stunden, fahren an einem Wochenende nach Cochin zu einem Powwow der Saulteaux First Nation und zwei Wochen später an das Finale des Canadian Cowboy Association-Rodeo in Saskatoon, der grössten Stadt in Saskatchewan.
Nur etwas mehr als eine Million Menschen leben in der Provinz Saskatchewan, wobei über die Hälfte in und um die beiden Städte Regina und Saskatoon angesiedelt sind. Der Rest verteilt sich auf eine Fläche rund 14-mal so gross wie die Schweiz. Mit gerade mal zwei Einwohnern pro km² ist Saskatchewan fast so dünn besiedelt wie der Tibet. Den grössten Anteil an der Bevölkerung haben die Deutsch-, Englisch- und Schottischstämmigen, gefolgt von Iren, Ukrainern und Franzosen. Nur gerade 13 % der Einwohner sind Indianer oder Métis (Nachkommen von Indigenen und Franzosen), und doch hat Saskatchewan unter den kanadischen Provinzen den höchsten Anteil an First Nations – wie sich die indigenen Völker Kanadas bezeichnen. Obwohl Saskatchewan über eine riesige Landfläche verfügt, sind die Reservate in wenigen Autominuten durchfahren. Die grösste Reservation, die Big River First Nation, kann gerade mal 120 km² für sich beanspruchen. Die Menschen der First Nations können sich zwar heute frei bewegen und auch ausserhalb der Reservate Land erwerben, wohnen und arbeiten (was bis in die 1990er Jahre nicht möglich war) und die letzte Residential School (eigentlich eher Umerziehungslager) wurde 1996 geschlossen, doch der weit über 100 Jahre andauernde, sukzessive physische und soziokulturelle Genozid hinterlässt bis heute Spuren.
Loretta erzählt uns über das Leben in den Reservaten und die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte und hat. Sie fand für sich einen Weg in die Gesellschaft ausserhalb der First Nation, hat einen interessanten Job im Ölgeschäft und baut sich ein zweites Standbein mit Pferden auf.
Die aktuelle Regierung Trudeau hat Steuererlasse verfügt, mehr Schulen und Zugang zum Gesundheitswesen ver- und eine einmalige Wiedergutmachung in Form von umgerechnet 28 Milliarden Euro gesprochen, wovon die Hälfte an die rund 200'000 Direktbetroffenen früherer Residential Schools gehen. Damit sollen die Lebensbedingungen der First Nations nachhaltig verbessert werden und die transgenerationale Weitergabe des Schmerzes und des Traumas unterbrochen werden. Ob dies in dieser Form gelingt, darüber sind sich viele Kanadier unschlüssig.
Nach acht Wochen verabschieden wir uns von unseren neuen Freunden und all den Fellnasen mit der freundlichen Unterstützung von Kelly und ihrem Traktor, der uns aus dem Schnee zieht und auf die vereiste Strasse bringt. In Edmonton dürfen wir noch die bereichernde Bekanntschaft von Beas Freunden Karen und Garth machen und mit ihrem Shih-Tzu Hund mit dem treffenden Namen «Mini» spazieren gehen. Doch dann ist es an der Zeit, die Strecke nach Vancouver anzugehen. Nicht nur wir wollen durch die Rockies, auch ein ausgemachter Schneesturm ist dorthin unterwegs. So fahren wir bei dichtem Gestöber und vereistem Highway mal 80 km/h, mal 60 km/h, mal weniger und die verbleibenden 1'150 Kilometer werden seeehr lang. Wir kommen schliesslich drei Tage später in Vancouver an, verkaufen unseren Van und nehmen wehmütig Abschied von diesem grossartigen Land. Aber heute ist nicht alle Tage, wir kommen wieder, keine Frage.
Mehr zu unserem Cowgirl- und Cowboy-Leben auf der Winning Way Ranch im Blogbeitrag