Nova Scotia
Wir starten unser Abenteuer an Kanadas südöstlichstem Küstenabschnitt, in Nova Scotia. Die Provinz lebt von der Landwirtschaft und vom Meer. In den Häfen der kleinen Küstenstädte ankern Fischtrawler und in den angrenzenden Wiesen sind die Hummerfallen zum Trocknen ausgelegt.
Zenovia sammelt uns an einer Tankstelle ein, auf halbem Weg zwischen Halifax und ihrem Zuhause in Hubbards. Wir haben einen zweiwöchigen Workaway vereinbart. Tyler, Zenovias Mann und Metro, ihr Elfjähriger, warten mit einer frischen, dem Geruch nach leicht angebrannten Gemüsesuppe auf uns. Tyler hat sich ganz dem Thema «Organic Food» verschrieben. Fast alles, was im Kochtopf landet, stammt aus eigener Produktion. Tyler betreibt ausserdem einen Onlinehandel mit ausgewählten Bio-Produkten.
Wir richten uns im etwas abseits gelegenen Cottage häuslich ein und machen uns am nächsten Tag an die Arbeit; Gemüsebeete jäten, mulchen, Gras mähen, Bäume und Hecken stutzen, Eier einsammeln. Zu den Hauptmahlzeiten, die vorwiegend aus Salaten und Suppen bestehen, schnappt sich jeder ein Küchenmesser und schneidet sich seine Salate, Sprossen und Kräuter draussen in den Beeten. Ergänzt durch Eier, Speck und Nüsse.
Samstags besuchen wir den Farmers Market, wo es viel Handwerk zu kaufen gibt: Körbe aus alten Fischernetzen, Tonwaren, Holz- und Webarbeiten. Und natürlich gutes Essen – Lobster Roll und dazu ein lokales Draft Beer. Die darauffolgende Woche werden wir von Tyler ins Bikepolo eingeführt. Einfach erklärt besteht das Spiel aus zwei Mannschaften, die auf Fixies (Velo mit Rücktrittbremse) und mit Poloschlägern bewaffnet versuchen einen Ball in der Grösse eines Handballs ins gegnerische Tor zu dreschen. Es ist ein schnelles und teilweise recht rabiates Spiel und hat in meinem Fall zu einem Überschlag samt Rad geführt. Tanja durfte sich dafür als Rookie-Torschützin adeln lassen.
Nach zwei Wochen Aufenthalt bei Tyler und Zenovia werden wir von Ron und Diane in Hubbards abgeholt. Wir haben die beiden vergangenes Jahr auf unserem Roadtrip von British Columbia nach Saskatchewan kennengelernt. Sie nehmen die insgesamt siebenstündige Hin- und Rückfahrt kanadisch-gelassen unter die Räder und bringen uns nach Moncton, ihrem Zuhause. Wir werden einige Tage mit ihnen verbringen, bis unser Van den Zielhafen in Halifax erreicht. Wir feiern nacheinander Rons Geburtstag, Ron und Dianes Hochzeitstag, den Canada Day (1. Juli) und dann noch Dianes Geburtstag. Unsere kumulierte und an Jahren gereifte Lebensweisheit zelebrieren wir mit gutem Wein, Lobster vom Grill und Konzerten in Dieppe. Ron und Diane machen uns mit ihrem grossen Freundeskreis bekannt, unter anderen mit Jill und Ken. Die zwei sind Gewichtheber in der Altersklasse der über 70-jährigen, die für regionale Meisterschaften noch immer quer durchs riesige Land reisen und ihre Garage in eine veritable Box umgebaut haben.
Diane und Ron begleiten uns zurück nach Halifax, wo wir uns im Vorort Dartmouth ein Studio teilen. Nach einem üppigen Sea Food Dinner im «White Clipper» in Halifax’ Hafenviertel gehts am folgenden Tag zum Zoll, um unseren Van auszulösen und die Versicherungsmodalitäten zu regeln. Mit CHF 1’500 bei 90-tägiger Lauffrist ist die Haftpflichtversicherung vergleichsweise teuer, doch damit sind zwei Millionen Dollar Schadensumme gedeckt – bei den klagefreudigen Amerikanern leider eine Notwendigkeit. Mit den abgestempelten Zollpapieren nehmen wir unseren Van am 7. Juli in Empfang, verabschieden uns von unseren Freunden, tanken Benzin und Gas und steuern den nächsten Walmart an, um uns mit Proviant einzudecken.
Die ersten hundert Kilometer führen uns entlang der Küste Nova Scotias und dann quer durch die Halbinsel. Wir campieren auf einer Farm, nahe Lemister. Karine, unser Host, war in ihrem früheren Leben Köchin. Heute züchtet sie Enten und Gänse und baut die Farm mit ihrem Mann zu einem Homestead aus, um möglichst autark und naturnah zu leben.
Wir gelangen nach Annapolis Royal, einer schmucken Kleinstadt mit Hafen, wo vor rund dreihundert Jahren die ersten grösseren Einwanderungswellen aus Übersee erfolgten. Die französische Kolonialisierung begann mit Samuel de Champlain, der im Jahr 1608 die Stadt Québec gründete. Die Franzosen konzentrierten sich auf den Handel mit Pelzen und errichteten Handelsposten im Landesinneren. Annapolis Royal erst von den Franzosen als Port Royal gegründet, wurde 1710 von den Briten erobert. Der Hafenort hatte strategische Bedeutung und war Ausgangspunkt für weitere Expeditionen, weshalb sich Frankreich und Grossbritannien unablässig über dessen Kontrolle stritten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert dehnten die Siedler die Grenzen weiter Richtung Westen aus. Kanadas Regierung sah sich dabei nicht nur mit den Herausforderungen neuer Landerschliessungen konfrontiert, sondern auch mit den Indigenen, die sich gegen den steten Siedlerstrom wehrten. Die Beziehungen zu den First Nations und die Wiederherstellung ihres kulturellen und territorialen Eigentums stehen im Mittelpunkt aktueller Debatten und Bemühungen durch die Regierung Trudeau.
Als wir im Fischerstädtchen Digby ankommen, erfahren wir vom «Lobster Bash». Der Event findet am Hafen statt. Wir geniessen Jakobsmuscheln vom Grill und das Spektakel des Barell Tassing, wo zwei Kombattanten in einem Fischcontainer auf dem unruhigen Wasser dümpeln und einander mit Hilfe von Rudern umzustossen versuchen.
Wir übernachten an der einsamen Sandy Cove und machen uns anderntags auf nach Lunenburg für einen Crab Pie und weiter nach Chester, wo wir uns mit Kaffee und Tee vom nasskalten Wetter erholen und den hausgemachten Kuchen geniessen. Auf dem Weg zu Tyler – wir haben ihm versprochen vorbeizuschauen und ihm den Van zu zeigen – halten wir am Swissair Memorial, das an die 229 Menschen erinnert, die im Jahr 1998 in der Bucht von Peggy’s Cove den Tod fanden.
Gleichentags verlassen wir Nova Scotia in Richtung New Brunswick. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen mit Ron und Diane in Moncton.
New Brunswick
Wir schnappen uns ein paar Decken und richten uns auf dem Rasenstück vor der Bühne ein. Dieppe veranstaltet regelmässig kostenlose Konzerte im Stadtpark. Eine Band rockt in Acadia-Französisch, mit humorvollen Lyrics zu Themen wie Vaterschaft und Umgang mit sozialen Medien. Da der Sänger geschätzt dieselbe Geburtsdekade mit uns teilt, können wir seine Alltagsnöte ziemlich gut nachvollziehen. Diane, als Acadienne, kriegt die sprachlichen Nuancen problemlos mit und übersetzt wo nötig.
Diane ist, wie viele Acadiens aus der Gegend, eine Nachkommin französischer Migranten, die vorwiegend aus der Region Poitou nach Kanada auswanderten und sich an der Atlantikküste niederliessen. Im Zug der Handelskonflikte und der anschliessenden Übergabe der französischen Kolonien an Grossbritannien wurden die Acadiens im 18. Jahrhundert von den Briten schikaniert und systematisch in ihren Rechten beschnitten. Die Französischsprachigen wurden schliesslich von ihrem Stammland vertrieben, etliche gar deportiert – zurück ins Mutterland, nach Louisiana oder in andere Kolonialgebiete. In den darauf folgenden Jahrzehnten wagten sich nur wenige zurück in die kanadische Heimat, viele verblieben in der Diaspora.
Wir besuchen Dianes Schwester Maria und ihren Freund Danot in Saint-Denis-Thomas-de-Kent. Maria zeigt uns Danots Anwesen samt Hühnergehege, dessen Behausungen der Kulisse einer Westernstadt nachempfunden sind. Danot hat es Maria zuliebe in tagelanger Arbeit detailgetreu gebaut, bemalt und beschriftet. Für die Unterhaltung von Huhn und Hahn sorgt der mittig platzierte Saloon.
Wir fahren alle raus zum Kouchibouguac NP, kaufen Lizenzen für je 4 $, um im weichen Schlick der Bucht nach Muscheln zu graben. Wir stehen im knietiefen Wasser, mit einem angeleinten Kessel im Schlepptau. Um an die delikaten Muscheln ranzukommen, formen wir mit den Händen eine Schaufel und graben uns sachte im weichen Sand vor, bis wir die zerbrechlichen Schalentiere ertasten. Nicht selten findet man am selben Spot ganze Nester davon. Unsere Eimer sind bald randvoll und wir müssen deren Inhalt auszählen – 75 Muscheln pro Person sind erlaubt. Auf der Rückfahrt besorgen wir noch einige Sixpack Bier für den späteren Festschmaus. Während des Apéros lädt Danot Michael spontan auf eine Runde mit dem Quad ein und zeigt ihm seine Lieblingsspots am Fluss, wo er die Angelschnur auswirft und sich vom Redeschwall seiner Maria erholt. Zum Supper geniessen wir die im Sud gedämpften Muscheln und einige von Rons abenteuerlichen Geschichten aus seiner Zeit im eisigen Norden, wo er als Berater der kanadischen Regierung in den Stammesräten der Mi’kmaq mitwirkte.
USA
Der Grenzübertritt in die USA verläuft erstaunlich unkompliziert und ist in einer knappen Stunde vollzogen.
Maine
Maine wird als «The Vacation State» bezeichnet und lebt vom Tourismus, der Forstwirtschaft und der Fischerei. Und so cruisen wir durch ausgedehnte Mischwälder und entlang kurvenreicher Küstenstrassen. Maine beherbergt den Acadia-Nationalpark, der mit Bergen, Seen und felsigen Küstenabschnitten aufwartet. Unser Plan, im Park zu campen und ihn später zu Fuss zu erkunden, fällt aufgrund von Sturm- und Flutwarnungen ins Wasser. Wir sitzen in einem heruntergekommenen Motel fest und sehen zu, wie Sturzfluten auf unseren geparkten Van niedergehen.
Als es wieder aufklart, erkunden wir das weissgetünchte Camden mit seinem Hafen, der durch die von Ahorn bewaldeten Hügel und Landzungen geschützt in der Bucht liegt. Danach den in dichtem Nebel verborgenen Leuchtturm von Marshall Point, das Fischerdorf Bremen und schliesslich den einsamen Strand im Pemaquid Pond Preserve, wo wir übernachten und den Tag mit Blick auf den silberblendenden Ozean beschliessen.
In Portland halten wir nur für einen kurzen Verpflegungsstopp. Alles ist schweineteuer, ein Parkplatz in der Innenstadt kostet 8 $ die Stunde. Darum lassen wir den Wagen in einer Quartierstrasse zurück – verwirrt ob all der Verbotsschilder und nicht wissend, ob wir ihn mit einem Strafzettel unter dem Scheibenwischer wieder antreffen werden. Nach einem dicken Sandwich und einem guten Ale im «Thirsty Pig» geht’s weiter landeinwärts.
Wir suchen nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Da wildes Campieren in Maine fast ausnahmslos verboten ist, bleiben nur die völlig überteuerten und meist bis auf den letzten Platz belegten Campgrounds. Wir schlagen ein 70 $-Angebot für einen Stellplatz ohne Wasser und Stromzugang aus. So kommt es, dass wir das erste Mal auf einem der riesigen Parkplätze des Detailhandelsriesen Walmart campen. Es wird nicht das letzte Mal sein. Einsam und gelangweilt auf dem abendlich leeren Parkplatz machen wir uns dran etwas Ordnung in unser Vanlife zu bringen. Wir haben zu viel Ware dabei.
New Hampshire
Portsmouth ist eine der ältesten Städte der USA. Der gepflasterte Market Square ist ein belebter Ort in der Altstadt, mit einladenden Restaurants, hübschen Geschäften und allerlei Kulturveranstaltungen. Das angrenzende «Strawbery Banke Museum» ist ein Freilichtmuseum mit historischen Gebäuden, das Besuchern Einblick in das Leben vergangener Zeiten gibt.
Nach einer geruhsamen Nacht im Bett eines anonymen Motel 6, planen wir den Tag und unseren weiteren Routenverlauf im «Book and Bar» bei Tee und Kaffee.
Wir kurven auf der Küstenstrasse 1A, durch See- und Dünenlandschaften vorbei an noblen Mansions bis Hampton Beach, wo wir kurz in den kühlen Atlantik eintauchen.
Bald wechselt die Szenerie. Der Walmart in der Agglomeration von Boston ist uns nicht geheuer, also übernachten wir etwas ausserhalb auf dem Gelände eines «Target». Das Parkplatz-Schild mahnt zwar ein «No Overnight Parking» an, doch die indischen Betreiber des angrenzenden Liquor-Store erlauben uns zu bleiben. Bislang ist das noch nicht der naturnahe Roadtrip, den wir uns ausgemalt haben.
Massachussetts
Der geschichtsträchtige Staat wirbt mit dem Motto «The Spirit of America». Das kommt nicht von ungefähr, denn 1620 wirft die «Mayflower» in der Massachussetts Bay Anker, und entlässt die «Pilgrim Fathers» von Board. Sie werden in den kommenden Jahrzehnten 13 neue Kolonien für das britische Reich urbar machen und bewirtschaften.
Von Maine bis runter nach Connecticut sind weisse Villen, die sich hinter schmiedeeisernen Gittern, getrimmten Rasenflächen und alten Baumbeständen verstecken, das vorherrschende Bild in den besseren Gegenden New Englands. Hier residieren die alteingesessenen Familien, der Geldadel, die Erben von Industriemagnaten – eine weisse Bastion konservativer Werte und weit zurückreichender Investitionen; die Kraft-Familie (Kraft Foods), die Johnsons (Johnson & Johnson) und die Kochs (Koch Industries) haben hier ihre Stammsitze.
Boston gilt auch als Wiege des Unabhängigkeitskriegs. Wir folgen dem vier Kilometer langen «Freedom Trail» durch alte Ziegelsteinviertel, vorbei an historischen Gebäuden und Plätzen, wo der lange Weg der frühen amerikanischen Siedler von den «Fesseln» der britischen Obrigkeit hin zu politischer und wirtschaftlicher Freiheit seinen Anfang nahm.
In den 1760er und 1770er Jahren wuchsen die Spannungen zwischen den nordamerikanischen Kolonien und der britischen Regierung. Die Kolonisten fühlten sich von Grossbritannien bevormundet und ausgebeutet, da sie hohe Steuerabgaben zu leisten hatten, ohne dass ihnen eine Vertretung im britischen Parlament zugebilligt wurde. Dieser Zustand führte zur Forderung "keine Besteuerung ohne Vertretung". Die anhaltenden Konflikte führten zu verhärteten Fronten und handgreiflichen Auseinandersetzungen, die sich im Jahr 1770 beim sogenannten «Bostoner Massaker» entluden, als britische Soldaten auf eine aufgebrachte Menschenmenge schossen und mehrere Kolonisten töteten.
Der Konflikt verschärfte sich, als die britische Regierung den «Tea Act» erliess. Dieser sicherte der «British East India Company» das Monopol für die Ausfuhr und den Handel von Tee mit dem europäischen Kontinent. Die Kolonisten opponierten dagegen, in dem sie sich als Indianer verkleidet, auf die vor Anker liegenden Schiffe der Company schlichen und die im Bauch der Schiffe verstauten Teeballen ins Wasser warfen. Dieser Akt ging als «Boston Tea Party» in die Geschichte ein.
So viel Geschichte macht hungrig. In Bostons Little Italy treffen wir alle paar Meter auf Menschen, die Gebäckschachteln von «Mike’s Pastry» wie Trophäen in den Händen halten. Andere beissen bereits im Laufen in ein knuspriges Cannoli. So eins wollen wir auch! Aber die Schlange vor Mike’s zieht sich einen ganzen Block entlang. Ein paar Meter weiter betreten wir einen anderen italienischen Pastry Shop, der nicht ganz so überlaufen ist. Auch wenn die Bedienung wenig vom Aussehen italienischer Einwanderer hat, die Leute verstehen sich aufs Backen der Cannoli, Sfogliatelle, Amaretti und Torrone.
Am späten Nachmittag ergattern wir einen freien Tisch auf der Terrasse des «Boston Sail Loft», direkt über dem Wasser, und bestellen Steamed Lobster mit Miesmuscheln und Pommes. Die im Weissweinsud gekochten Schalentiere sind eine saftige Angelegenheit, darum werden Plastiklätzchen verteilt. Unsere Brillen bekommen Saucenspritzer ab und als sich Tanjas fettriefendes Lätzchen beim Ausziehen im Haar verfängt, meint die Serviererin lakonisch: «Dear, you lobstered too hard».
Wochenende, Ferienzeit und Cape Cod, das bedeutet viel Verkehr. Wir sind für unsere Verhältnisse früh unterwegs, wechseln aber gleich nach der Kanalbrücke auf die entspannte 6A. Die stattlichen Häuser haben Anhänger mit Motorbooten in der Auffahrt geparkt und da und dort steht ein Golfbag bereit, um in den SUV geladen zu werden. In den Dörfern herrscht gutgelauntes Treiben, die Leuten laufen mit Einkaufstüten rum oder lassen sich auf den Terrassen der Cafés und Restaurants die Sonne ins Gesicht scheinen. Cape Cod ist etwas für die Gutbetuchten, das lässt sich nicht nur an den Häusern mit den gepflegten Gärten erkennen, sondern auch an den hochglanzpolierten Autos, davon auffällig viele europäische Erzeugnisse. Die Parkgebühr am Nauset Beach macht klar, welche Sommergäste hier nicht erwünscht sind. Wir sparen uns die 30 $ und fahren weiter. In der Jackknive Cove ist das Parken gratis aber das Wasser zu seicht, um zu baden. Dafür vergraben wir die Zehen im warmen Sand und schauen den Leuten beim Muschelsuchen zu.
Rhode Island und Connecticut
Nach einer weiteren Ausmist-Runde haben wir erstmals das Gefühl, im Vanlife angekommen zu sein. Am Johnson Pond stillen wir unseren Hunger mit Käse-Rhabarber Relish-Sandwiches und beobachten Angler, die ihr Petri Heil an den Barschen erproben.
Wir durchqueren den Kleinststaat Rhode Island. Weil wir hier nicht übernachten werden, wollen wir wenigstens eine Rast mit Abkühlung im Spring Lake geniessen. Die Freibad-Anlage «Spring Lake Beach» in Burrillville gehört mit zum Schönsten, was wir bislang an Freibädern gesehen haben: Sandstrand und smaragdgrünes, klares Wasser; rund um den See die farbigen Wochenendhäuser mit ihren Bootsanlegerstellen, umgeben vom harzduftenden Wald.
Quer durch Connecticut, mehrheitlich auf Nebenstrassen und durch dichte Laubwälder führt unser Weg nach …
New York
Unser Biss in den Big Apple startet mit einer nahrhaften Fahrt durch dichten Verkehr und einem sechsstündigen Subway-Marathon zum John F. Kennedy-Flughafen, wo wir Tanjas Gottenkind Janina abzuholen. Mit zwei Stunden Verspätung und erst um neun Uhr abends sind wir alle im Apartment in Newark, New Jersey, um den Küchentisch versammelt.
Wir nehmen den Zug nach Manhattan. Es sind dunkle, nach Linoleum und Metall riechende Abteile, mit Sitzbänken aus speckigem Leder. Die Schienen führen durch das Schwemmland vor New York City, bis zur Penn Station.
Wir steigen die steilen Treppen aus dem Untergrund hoch, verwundert, dass die überdurchschnittlich übergewichtigen Amerikaner keine bequemeren Rolltreppen einfordern. Auf Strassenniveau angekommen, werden wir von den gleissenden Fensterflächen der Hochhäuser geblendet. Als wir am Empire State Building vorbei gehen, legen wir die Köpfe in die Nacken und verfolgen die endlosen Etagen, die sich im Blau des Himmels verlieren. Es ist heiss in New Yorks Häuserschluchten. Die stillen Hallen der New York Public Library laden zum Verweilen und zur Abkühlung ein. Ganz in der Nähe befindet sich der Bryant Park. Er besteht aus einer quadratischen Rasenfläche, die von Gehwegen unter schattenspendenden Bäumen gesäumt ist. Wie lose verstreute Legosteine stehen überall Tische und Bänke, an denen die Berufstätigen aus den nahen Business Towers ihren Lunch einnehmen, lesen oder mit Sitznachbarn ins Gespräch vertieft sind. In einer Ecke des Parks kann man sich Brettspiele ausleihen – zu erkennen an den stillen Gestalten, die mit gerunzelter Stirn ihre Schachpartien austragen. Tanja und Janina duellieren sich ebenfalls in strategischer Denkfähigkeit, doch nach wenigen Zügen artet die Partie in einen impulsiven und verlustreichen Schlagabtausch aus.
Wir genehmigen uns einen Lobster Tail (mit Vanillecrème gefülltes Blätterteiggebäck) in Carlo’s Bakery – bekannt aus der TV-Serie «Cake Boss», und flanieren zum Westside Theater für die Nachmittagsvorstellung des «Little Shop of Horror».
In Little Italy lassen wir uns eine Pizza schmecken und entdecken, zwischen dem italienischen und chinesischen Viertel in Manhattan’s Lower East Side gelegen, den Sara D. Roosevelt Park, wo Pelotabälle gegen die Mauer gedroschen und Körbe geworfen werden und die verschiedenen Hautfarben für einmal keine Rolle spielen.
Der Times Square ist die Bühne von Robert Burck, der als «Naked Cowboy» seit den späten 90er Jahren im Slip, mit Cowboyhut und Stiefel auf der Gitarre schrummt und die Passanten erheitert.
Die vielen Bars in Greenwich-Village sind die Heimat der Sänger und Comedians. Wir setzen uns auf Klappstühle und bestellen unsere Drinks. Ein gestandener Comedy-Profi führt durchs Programm, wo er sechs Neulinge ankündigt, die sich auf der schmalen Bühne ihre ersten Sporen verdienen. Die Themen wiederholen sich: Sex, Mutterkomplexe, Vaterkomplexe, LGBTQ und sexistisch-rassistische Seitenhiebe an das vorwiegend weisse Publikum. Nach dem obligaten Besuch des Museum of Modern Art wandern wir quer durch den Central Park und rasten unter den Bäumen. Das Quecksilber steht bei 36° C, als wir uns in Greenwich Village für ein Bier ins eiskalte Innere eines Restaurants setzen.
Der Chelsea Market mit seinen bunten Food Stands bietet einen fröhlichen Kontrast zum Ernst des Ground Zero, der Gedenkstätte der Opfer von 9/11. Wir besteigen die Fähre nach Staten Island, mit Sicht auf die Lady Liberty und kehren ohne Landgang wieder zurück an den Ausgangsort, um zur Wall Street zu pilgern, dem Mekka des Kapitalismus. Hier steht eine Menschenschlange, um dem «Charging Bull» zu huldigen und ihm die bronzenen Eier zu streicheln. Das soll die finanzielle Potenz steigern.
Nach 15-minütigem Fussmarsch gelangen wir auf die Brooklyn Bridge, die den East River überspannt und Manhattan mit Brooklyn verbindet. Wir spazieren bis zum ersten Brückenpfeiler und beobachten den unten vorbeirauschenden Verkehr und die Parade der Selfie-Knipser auf der hölzernen Plattform. Zurück in Lower Manhattan probieren wir die Hauptattraktion des «Los Tacos No. 1» und stolpern, es ist bereits früher Abend, über die Schwelle des «Bitter End», wo schon Grössen wie Bob Dylan, Billy Joel und Lady Gaga aufgetreten sind. Die heutigen Acts lassen das künstlerischen Niveau etwas vermissen, weshalb wir die Bar nach wenigen Drinks wieder verlassen. Wir beschliessen den Abend am Times Square mit einem Riesenhotdog auf Sauerkraut.
Wir schaffen unser Gepäck aus dem Studio runter zum Van. Tanja wirft Michael den Autoschlüssel zu, der greift ins Leere und schaut zu, wir der Schlüssel auf dem Gully unter seinen Füssen aufschlägt, langsam über den Rand der Strebe gleitet und im Dunkel verschwindet. Immerhin haben wir noch Ersatz im Gepäck. Wir bringen Janina rechtzeitig zum Flughafen und nehmen Abschied.
Brooklyn mutet an wie eine x-beliebige amerikanische Vorstadt – es ist nichts zu spüren von der Hektik auf der anderen Seite des East Rivers. Wir parken unseren Van auf dem Gelände des «Scenic Parkway». Am Abend spiegeln sich die Silhouette und die Lichter von Manhattans Skyline im schwarzen Wasser des East River. Nicht nur die Kulisse ist einmalig – der RV-Park ist vorübergehend zu einem Open Air- und Drive In-Kino umfunktioniert worden. Nach dem Eindunkeln vergnügen wir uns an «Barbie» und all den rosagewandeten Girls in den Stühlen um uns, die begeistert an ihren Plastik-Sektkelchen nippen und in Erinnerungen schwelgen.
An nächsten Tag nehmen wir die U-Bahn nach Manhattan und von dort steigen wir auf die Linie 7 um, die uns rüber nach Queens bringt. Queens ist der grösste Stadtbezirk von NYC und beherbergt Menschen aus über 150 Nationen. Etwa die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Einwohnern, die entweder im Ausland geboren wurden oder in der zweiten oder dritten Generation im Land leben. Nirgendwo sonst in den USA finden sich so viele verschiedene Nationalitäten auf so begrenztem Raum. Wir steigen an der 82. Jackson Heights aus und schlendern durch die Viertel der Hispanics bis zur 103. Corona Plaza. Hier teilen sich Mexikaner, Puerto-Ricaner, Kolumbianer, Peruaner und Dominikaner Wohnraum und Strassen. An jeder Ecke stehen Stände, wo nebst billiger Importware aus China ländertypische Gerichte angeboten werden: Enchiladas, Tacos, Bohneneintopf, Hühnerschlegel und Schweinelenden brutzeln auf Grills und Herdplatten. Salsa- und Merengue-Klänge paaren sich mit Latino-Rap und buhlen mit den Gitarren, Trompeten und Fideln einer eigens aus Guadalajara angereisten Mariachi Band, um die Aufmerksamkeit der Passanten. Das Rattern der Züge auf den stählernen, grünerodierten Trägern des Zug-Viadukts und die Motoren alter Ford Pickups und Toyotas tragen zur Kakophonie bei. Einige Stationen weiter gelangen wir ins asiatische Viertel mit zahllosen chinesischen, vietnamesischen, thailändischen und indischen Restaurants. Wir entscheiden uns für vielfarbige chinesische Dumplings – im Bambuskorb gegarte Teigtaschen.
Unser letzter Tag im Big Apple. Vom Scenic Parkway bringt uns eine Fähre runter zum Brooklyn Bridge-Park. Wir schlendern entlang des East Rivers, setzen uns auf eine Parkbank und beobachten die vorbeitrabenden Jogger und die Fähren, die Menschen an die Ufer Brooklyns und Manhattans entlassen. Danach machen wir uns auf den Weg in die Bronx und zum Yankee Stadion – wir haben Tickets für den «Cap-Giveaway-Day» zum Spiel der New York Yankees gekauft. Das Stadion hat gewaltige Ausmasse. Die Menschenschlange vor dem Eingang ebenso. Wir schieben uns schrittweise vorwärts, bis uns die Eingangshalle schluckt und wir die begehrten blauen Baseballcaps in die Hände gedrückt bekommen. Das Stadion fasst über 45'000 Fans und ist auf vier Ebenen angelegt. Auf jeder Etage gibt es Fress- und Bierstände und alle paar Meter kommen uns Fans mit beladenen Tabletts entgegen. Wir erklimmen Rampe um Rampe, bis wir den uns zugeteilten Sektor erreichen.
Die Amerikaner sind Meister des Showbusiness und des Entertainments. Diese Qualitäten haben sie wahrscheinlich anlässlich der ersten Baseballspiele entwickelt, denn ohne zusätzliche Unterhaltung würde die Menge in ihren Schalensitzen wohl einfach bierselig wegschlummern. Das Spiel bietet kaum Spektakel. In neun Innings (Spielrunden) gelingen gerade mal zehn Hits (der Schläger trifft den Ball) und nur gerade sechs Runs (der Ball wurde weit genug geschlagen, damit es sich lohnt, die Beine in die Hand zu nehmen und die nächste Base anzulaufen). Um der nachlassenden Aufmerksamkeit entgegenzuwirken, wird das Publikum alle zehn Minuten dazu aufgefordert, an einem Wettbewerb teilzunehmen, einen Spielerrekord zu beklatschen oder den Fan in ihrer Mitte, der seit fünf Jahren kein einziges Heimspiel verpasst hat. Trotz der etwas monotonen Unterhaltung sind es die Atmosphäre des Yankee Stadiums und die Gelegenheit, eine der beliebtesten amerikanischen Sportarten live zu erleben, allemal wert auszuharren.
Wir verlassen New York City und tauschen Beton gegen Sand, Kreuzungen gegen Piers und Verkehrslärm gegen Wellenrauschen. Willkommen auf Coney Island – Brooklyns Beachmeile mit Vergnügungspark. Wir setzen uns in der Nähe des Boardwalk an den Strand, geniessen den Weitblick und das sanfte Plätschern und unterhalten uns mit Michelle und Sofia, sonnengebräunte Mutter und Tochter, die der Hektik und der zunehmenden Aggressivität in der Stadt wann immer möglich zu entkommen suchen.
New Jersey
Der Staat New Jersey fristete lange Zeit ein Dasein als industrieller Hinterhof von New York City. Wer nicht wie die Eltern ein Blue Collar-Dasein fristen wollte, musste sein Glück auf einer der vielen Bühnen an New Jersey’s Shoreline suchen. Musikergrössen wie Bruce Springsteen & The E-Street Band, Southside Johnny und Bon Jovi feierten in Asbury Park, Atlantic City und Long Beach Island ihre ersten Erfolge. Der Sound von «My Hometown» begleitet uns, während wir durch die Strassen von Freehold fahren, wo Springsteen seine Kinder- und Jugendjahre verbrachte. Das kleine, blaugestrichene Haus an der 39 ½ Institute Street steht noch immer. Nichts in Freehold erinnert an den grossen Sohn – kein Denkmal, keine Hinweisschilder. Vielleicht hatte Bruce seine Erinnerungen an die Heimatstadt etwas zu düster besungen und die Zurückgebliebenen verstimmt. Denn heute mahnt wenig in dem Städtchen an die Krisenjahre der Rezession in den 70ern, von denen New Jersey mit seiner Stahl- und Textilindustrie stark betroffen war. Freehold ist eine aufgeräumte und hübsche Kleinstadt.
My Hometown - Bruce Springsteen and the E Street Band
In Asbury Park lassen wir den Blick über den Strand und die letzten Badenden schweifen, während die untergehende Sonne die Strandpromenade und die flanierenden Gäste in orangegoldenes Licht taucht. In der altehrwürdigen Convention Hall wirbt ein Plakat für das Konzert von «Southside Johnny and The Asbury Jukes», alten Weggefährten Springsteens. Leider sind wir dafür einige Tage zu früh dran. Und zu spät, um Tickets für die heutige Show im «Stone Pony» zu bekommen. Die Musik Bar, in der viele lokale Grössen ihre Musikkarriere starteten, ist noch immer in Betrieb – allerdings hat man die Konzerte aus Platzgründen mittlerweile nach draussen verlegt. Wer keine Tickets hat, macht es sich auf der Promenade bequem oder auf der Ladefläche seines Pickups und hört vom angrenzenden Parkplatz aus zu.
Pennsylvania
Pennsylvania ist ein Schlüsselstaat der USA. Hier, in Philadelphias Independence Hall, wurde die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten aufgesetzt. Das Dokument wurde am 4. Juli 1776 von den Delegierten des Kontinentalkongresses unterzeichnet und markiert als Independence Day den Geburtstag der Nation. Am selben Ort wurde 1787 auch die Verfassung der USA verabschiedet, nachdem die Delegierten der ursprünglich 13 Staaten rund vier Monate über deren Inhalt und Wortlaut gebrütet hatten.
Die Stadt hat den Übernahmen “City of Brotherly Love". William Penn, der Gründer der Kolonie Pennsylvania und der Stadt Philadelphia, wählte dieses Motto, weil es seiner Ansicht nach die Ideale von Toleranz und Brüderlichkeit betonte, auf denen die Stadt gründete und denen sich auch die Freimaurer – Penn war Mitglied einer Freimaurerloge – bis heute verschreiben. Da etliche der Gründerväter und ihnen nachfolgende US-Präsidenten Freimaurer waren, wollen wir uns «The Masonic Library and Museum of Pennsylvania» ansehen, eines der bekanntesten, historischen Freimaurergebäude, das gleichzeitig masonische Wirkungsstätte und ein öffentlich zugängliches Museum ist. Das reich verzierte Sandsteingebäude beherbergt auf der ersten Etage verschiedene Ausstellungsräume, Bibliotheken und Sitzungszimmer. Auf den oberen Etagen finden sich sieben Tempel (der Ort an dem Freimaurer rituell arbeiten), in denen aktuell 14 Logen und sieben Hochgrade tagen. Die Tempel sind nach den sieben Planeten des antiken Weltbildes benannt. Jeder repräsentiert eine Epoche der Antike und den dazugehörenden Baustil. Wir bestaunen Räume, die im römischen, dorischen, byzantinischen, gotischen und ägyptischen Stil gehalten sind, wovon die zwei grössten Tempel die Ausmasse vom Chor einer Kathedrale haben. In einem Bleiglasfenster entdecken wir das Abbild George Washingtons und dessen maurerisches Motto: The grand object of Masonry is to promote the happiness of the Human Race.
Etwas prosaischer drückte sich Sylvester Stallones Filmheld Rocky Balboa aus. «Rocky», ein angezählter Boxer aus Phillys Arbeitermilieu, steht wie kaum ein anderer als Identifikationsfigur für den Underdog im Kampf um Selbstbehauptung, Würde und Freiheit. Die Rocky-Statue (aus Rocky III) ist mittlerweile auf Strassenniveau in einem kleinen Park aufgestellt, damit auch die Unsportlichsten die Gelegenheit haben, sich vor ihr abzulichten. Die fitteren Fans rennen nach wie vor die Treppen zum Museum of Art hoch, um in Rocky-Manier die Arme hochzureissen, im Kreis zu tänzeln und Luftschläge auszuteilen. Wir haben das Hochjoggen vom zweitletzten Absatz in Angriff genommen.
Wir fahren raus aus Philly, durch graue Vororte, wo die Alten in Arbeiterjeans und Karohemden rauchend auf ihren Veranden sitzen und dem vorbeiziehenden Verkehr mit müden Gesichtern nachschauen. Um unser Budget zu schonen, übernachten wir wieder auf dem Gelände eines Walmart. Wir parken unweit eines Holzunterstands, der aussieht, als würden dort Pferde angebunden. Und tatsächlich, nach einer Weile hören wir Hufgetrappel und ein gut gelaunter Herr grüsst uns vom Bock seiner schwarzen Kutsche. Wenn man nach Lancaster County fährt und hinter den Maisfeldern weisse Scheunen und Farmhäuser aus gelbem Limestone auftauchen sieht, wo sich blaue Hemden, schwarze Hosen und weisse Schürzen an langen Wäscheleinen im Wind wiegen, wo Pferde einträchtig neben Kühen grasen und in den Auffahrten Einspänner statt der üblichen Pickups parken, dann ist man bei den Mennoniten und Amish angekommen.
Die Mennoniten sind eine religiöse Gruppe, die ihren Ursprung in der reformatorischen Bewegung- des 16. Jahrhunderts hatte. Sie wurden nach Menno Simons benannt, einem niederländischen Theologen und Priester. Die Mennoniten glauben an die Trennung von Kirche und Staat, die Gläubigentaufe (Taufe erst im Erwachsenenalter), an ein gewaltloses Zusammenleben und eine einfache, gottgefällige Lebensweise. Sie wurden in Europa sowohl von den Katholiken als auch von den Protestanten ausgegrenzt und verfolgt.
Für die Amish geht die Lehre der Mennoniten zu wenig weit. Ihr Begründer, Jacob Amman, ein Schweizer Mennonit, setzte in den 1690er Jahren Reformen innerhalb der Mennonitengemeinschaft durch, die auf eine strengere Einhaltung der kirchlichen Disziplin und der Gemeinschaftsnormen abzielten.
Auf unserer Fahrt durchs County begegnen wir öfters schwarzen oder grauen Einspännern. Die Zügel des Pferdes führen in eine Kabine, wo sie von einem Bärtigen gelenkt werden. Meist drücken sich mehrere Kinder die Nasen an den Scheiben platt, um die Eindrücke der modernen Welt aufzusaugen. Damit die Pferdehufe auf dem Asphalt keinen Schaden nehmen, ist die rechte Hälfte der Fahrbahn mit einem weichen Belag versehen. Vieles im County ist auf Kutschen ausgelegt: Die Parkareale der Einkaufscentren genauso wie die Kirchen der Mennoniten, deren Hof von drei Seiten mit Unterständen für die Kutschen eingerahmt ist. Die Amish hingegen haben keine Gotteshäuser, sie verrichten ihre Gottesdienste in den Wohnhäusern der Community, wobei sich die Familien als Gastgeber abwechseln.
Die Familie Oberholtzer sind unsere Gastgeber, hier in Ephrata. Wie so viele aus der Gegend, stammten ihre Vorfahren aus der Schweiz, Deutschland oder Holland; Martin Oberholtzer hat unverkennbar schweizerische Züge. Die Familie züchtet Rinder und Hühner (8000 Tiere im Chicken House) und bauen Süssmais und etwas Tabak an, den die Männer nach dem sonntäglichen Gottesdienst gerne in der Pfeife unter den Obstbäumen schmauchen.
Wir sitzen in der Küche bei einer Tasse Kaffee und gucken aus dem Fenster. Es gibt den Blick frei auf ein Stück Wiese, auf dem ein prächtiger Walnussbaum steht, dahinter die Überlandstrasse und mannshoher Mais, der schon bald bereit zur Ernte ist. Das weiche Licht des Nachmittags leuchtet die zwei Jungs von hinten an, die mit ihren Trottinetts im Gleichtakt die Füsse vom Asphalt stossen. Sie tragen braune Hosen, helle Hemden und kreissägenförmige Strohhüte. Von der Statur und der Synchronität ihrer Bewegungen her, vermuten wir Brüder.
Johanna Siegrist, vom Mennonite Life Center, ist unsere Führerin durchs Mennonite Country. Mit sichtlichem Stolz erzählt sie uns, dass ihre Familie noch immer im Besitz einer Schenkungsurkunde ist, die der Staatsgründer William Penn in den 1680er Jahren einigen Mennonitenfamilien übereichte und ihnen damit nicht nur Landbesitz gewährte, sondern auch die freie Ausübung ihrer Religion zusicherte, die ihnen in Europa verwehrt war.
Johanna erklärt uns die unterschiedlichen Lebensweisen der Mennoniten und Amish: Während die Mennoniten eigentlich modern leben, erlauben sich die Amish nur unter bestimmten Umständen die Nutzung technischer Hilfsmittel; kein Telefon im Haus, allenfalls im eigens dafür hergerichteten Häuschen auf dem Hof; keine Nutzung des öffentlichen Stromnetzes aber Solarnutzung unter bestimmten Umständen; Traktoren werden im Bedarfsfall von den mennonitischen Nachbarn ausgelehnt; im Notfall und bei grösseren Distanzen darf im Auto mitgefahren werden, aber ein solches darf nicht besessen werden. Mennoniten tragen meist derbe Hosen und Hemden, die dezent gemustert sein können, Hosenträger, Stroh- oder Filzhüte. Die Frauen sieht man in einfachen Kleidern und Häubchen. Bei den Amish sind die Farben vorgegeben – schwarze Hosen, einfache uniblaue Hemden beziehungsweise helle Kleider für die Frauen. Die verheirateten Männer tragen einen Bart ohne Schnauz. Die Kutschen der Mennoniten sind schwarz, die der Amish grau.
Wir sitzen in der gemütlichen Küche von Fanny Lapp, einer Bekannten der Oberholtzers. Fannys Alter ist schwer einzuschätzen, sie ist vermutlich in ihren Achtzigern. Sie hat hellwache Augen und eine höfliche Neugier auf die moderne Welt und unsere Reiseerlebnisse – wobei sie selbst kaum mehr ausserhalb ihres Hofs verkehrt. Was sich nicht selbst produzieren lässt, wird ihr aus dem Hauptort Lancaster geliefert; ihr sind Ausflüge in die Stadt wegen der Kriminalität zu gefährlich, wie sie meint. Fanny tischt uns Hackbraten und Fleischknödel auf, begleitet von Honey Gravey, Kartoffelbrei, gekochtem Süssmaisbrei, Bohnen und Randen, dazu gibt es Cole Slaw, und Pickles. Als wir meinen, unsere Mägen hätten ihre absolute Aufnahmekapazität erreicht, gibt’s noch Vanilleeis und Apple Pie obendrauf.
Die «Swiss Pioneer Preservation Associates» veranstaltet eine Landwirtschaftsmesse in New Holland. Ein Drittel des Parkplatzes ist von Kutschen und Pferden besetzt. Die alten von Hand oder mit Dampf angetriebenen Landwirtschaftsmaschinen locken eine grosse Zahl von Farmern an. Etliche der altertümlichen Gerätschaften sind noch immer im Einsatz. Wir sind besonders beeindruckt von der Dreschmaschine, die von einem Pferd auf dem Laufband angetrieben wird. Mädchen in knöchellangen Kleidern und Hauben unter denen strohblonde Zöpfe herausschauen, und Jungs in Latzhosen und Strohhüten schauen gebannt einer dampfbetriebenen Modelleisenbahn zu, die unter Obstbäumen ihre Runden dreht. Wer genug gesehen hat, ruht unter einem Baum, unterhält sich mit den Nachbarn oder tut sich an einem hausgemachten Rootbeer-Slush (Rootbeer mit Vanilleeis) gütlich.
Wir verlassen die friedvolle Welt der Mennoniten und Amish und besuchen den ehemaligen Kriegsschauplatz des Städtchens Gettysburg, wo die Konföderierten – die hier mit General Lee erstmals einen Vorstoss auf Unionsgebiet wagten – am 1. Juli 1863 auf die Armee der Blaujacken traf. Das Tal liegt ausgebleicht vor uns, die Sonne brennt. Zwischen Senken, die keine Deckung bieten und hügeligen Wald- und Felsabschnitten, wo man sich leicht den Knöchel brechen kann, wogte die Schlacht während dreier Tage hin und her, bis die Unionsarmee schliesslich die Oberhand gewann. Der Blutzoll war mit geschätzten 50'000 Toten und Verwundeten gewaltig. Der fünfjährige Sezessionskrieg forderte insgesamt zwischen 600'000 und 750'000 Menschenleben und markiert bis heute den blutigsten Konflikt in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
Maryland und Washington DC
Washington DC war ab 1801 bereits die dritte Hauptstadt der USA. Wir parken vor der National Mall einem rund 146 Hektar grossen Park, mit dem weissen Haus in Sichtweite, und betreten die rund drei Kilometer lange Gartenanlage auf Höhe des George Washington Monuments. An einem Ende des Parks sehen wir den Capitol Hill aufragen, auf der gegenüberliegenden Seite das Lincoln Memorial. Wir folgen dem Weg in westlicher Richtung und gelangen zum World War II Memorial. Auf einer der Säulen sagt die Inschrift: "Here we mark the price of freedom." Es wird dem Opfer und Heldenmut der über 8 Millionen Amerikaner gedacht, die an den beiden Hauptschauplätzen des Zweiten Weltkriegs dienten: im Pazifik, im Krieg gegen die Japaner und im Atlantik und Mittelmeer, auf den Schlachtfeldern Nordafrikas, Italiens, Frankreichs und Deutschlands. Über 400'000 verloren ihr Leben und 700'000 kehrten verwundet in die Heimat zurück.
Einige Meter weiter erstreckt sich der 618 Meter lange Reflektant Pool, an dessen Ende das Lincoln Memorial aufragt. Weiss und erhaben leuchtet die Statue eines der angesehensten Präsidenten der USA aus dem Halbdunkel des Tempels. Abraham Lincoln war der 16. Präsident. Er bekleidete das Amt von 1861 bis 1865, während der schmerzvollsten Periode der jungen Republik. Lincolns entschlossenes Handeln zur Erhaltung der Union während des Bürgerkriegs ist zweifellos sein herausragendstes Verdienst. Unter seinem Regime wurde ausserdem der 13. Verfassungszusatz verabschiedet, der die Sklaverei in den USA endgültig abschaffte und den ehemaligen Sklaven, zumindest dem Papier nach, dieselben Rechte einräumte wie ihren vormaligen Herren.
Lincolns «Gettsyburg Adress» ist in den Marmor der Halle gemeisselt. In dieser Rede appellierte Lincoln an die Einheit aller Amerikaner für eine grosse und gerechte Sache – das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben aller Rassen unter dem Banner einer Nation. Ein Abschnitt lautet:
"Four score and seven years ago our fathers brought forth on this continent, a new nation, conceived in Liberty, and dedicated to the proposition that all men are created equal."
Auf den Stufen des Lincoln Memorials erinnerte Martin Luther King am 28. August 1963 in einer flammenden Rede ("I have a dream") vor 250'000 Bürgerrechtsaktivisten und Millionen von Fernsehzuschauern an dieses Versprechen. Ein Versprechen das für die «People of Color», auch nach hundert Jahren, noch immer der Einlösung harrte. Und heute, nach George Floyd und dem Sturm aufs Capitol, scheint Malcoms Utopie einer freien und gerechten Welt für Alle erneut in weite Ferne gerückt.
Als wir das geschichtsträchtige DC in Richtung Virginia und dem Shenandoah Nationalpark verlassen, erreichen wir den Park zur selben Zeit wie die Gewitterwolken, die sich, kaum nehmen wir die erste Serpentine, in Blitz, Donner und heftigem Regen entladen.
Virginia
Die Ankunft auf unserem ersten Campingplatz im Shenandoah Nationalpark markiert den Beginn eines neuen Reiseabschnitts – weg von den Grossstädten und rein in die Berg- und Waldlandschaft der Appalachen. Wir machen erste Wanderungen zu den Lewis Spring Falls, den Rose River und den Dark Hollow Falls und treffen nebenbei auf eine Gruppe von Amish, die unter den Bäumen picknicken und in voller Sonntagstracht auf der Wiese Volleyball spielen. Wies der Zufall will, ist einer der Ausflügler ein Nachbar der Oberholtzers, unserer Gastgeber in Ephrata.
Wir folgen der 469 Meilen langen Panoramastrasse des Blue Ridge Parkway über Hügelzüge in allen Schattierungen von grün und blau. Um uns mit Reiseproviant einzudecken, machen wir Halt bei einem General Store. Der Laden ist im Blockhausstil gezimmert. An der Theke gleich beim Eingang gibts Sandwiches, Softdrinks, Tabak und Bier. Dahinter stehen Regale mit Motoröl, rostigen Sägen, stumpfen Beile, Hämmern und gebrauchten Golfschlägern für $ 4.75. Wer auf ‘Antiquitäten’ steht, hat die Wahl aus Nippes Figuren, deutschen Bierhumpen, alten und auf alt gemachten Werbeschildern oder billigen Reisesouvenirs aus Fernost. In der Handmade-Sektion findet man aus Holz gefertigte Garderoben, Schuhregale und Vogelhäuschen. Wir befürchten, dass die Sandwiches, wie der Rest der angebotenen Ware, das Verfalldatum längst überschritten haben, und verlassen den Laden mit leeren Händen.
West Virginia und die Blue Ridge Mountains
Wir gönnen uns einen Lunch im «Korner Café», einem Diner im Städtchen Franklin. Der Raum wird beherrscht von einigen Sitznischen und einer langen Theke. Davor warten Barhocker aus Chrom und Sitzflächen in rotem Lederimitat auf Gäste. Auf den verkratzten Resopalplatten stehen die obligaten Serviettenspender, auf denen die Tageshits angepriesen werden. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen von Seniorenpärchen und Familien. Wir bestellen Sandwiches sowie Tee und Kaffee mit Refill-Versprechen. Die älteren Damen bedienen in gemächlichem Tempo und mit einer guten Prise Humor. Am Checkout bei der Kasse ist die Ausgabe der «Pendleton Times» aufgelegt. Folgende News haben es auf die Frontseite geschafft: die County Residents werden aufgefordert, sich für Sturmwarnungen zu registrieren; in den kommenden Wochen werden auch die letzten Haushalte mit Fiberglaskabeln bestückt; die stolzen Besitzer des «Tri-County Fair’s Champion Market Hog» geben ihr Siegerinterview; der ex Executive Director der lokalen Bücherei wird gebührend verabschiedet; und der tödliche Unfall eines Kletterers am Seneca Rock.
Inspiriert vom Buch «The Wettest County in the World» von Matt Bondurant und der Reality-TV-Serie «Moonshiners», möchten wir mehr erfahren über das illegale Brennen von hochprozentigem Schnaps (Kornwhiskey, Apfelkorn und ähnlichem), das eine lange Tradition in den Wäldern der Appalachen hat. Wir treffen Jeff, der in den Hügeln ausserhalb Franklins die «Dry Run Spirits Distillery» betreibt. Der Mann mit dem weissen Haarschopf und den roten Pausbacken gibt uns von seinen mittlerweile vom ATF (Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives) offiziell lizenzierten Destillaten zu probieren. Vor ihm haben hier Generationen deutscher Lutheraner – die Apfel- und Walnussbäume aus der alten Heimat brachten – Cider und Apple Jack (Apfelkorn) gebrannt.
Wir dürfen auf Jeffs Land campieren und sippen am Maple-Whisky, mit Aussicht auf die waldreichen Hügel und die verstreut liegenden Höfe.
Die Ortschaft Thomas, war einst die Hochburg der regionalen Kohleindustrie, und die Davis Coal and Coke Company war eines der grössten und einflussreichsten Unternehmen. Es beschäftigte einen Grossteil der Ortsansässigen und warb zusätzliche Gastarbeiter an, um die zahlreichen Kohlebergwerke auszubeuten und die Kokereien rund um die Uhr zu befeuern.
Neugierig betreten wir den «Christmas Shoppe», der in dieser industriellen Gegend etwas deplatziert wirkt. Randi, die Besitzerin, erzählt uns einen Schwank aus ihrer Kindheit: sie wuchs auf einer abgelegenen Farm auf und musste jeden Tag 16 Kilometer Fussweg bis zur Schule zurücklegen. Sie war das einzige Kind, das nicht von einer Minenarbeiter- oder Mennonitfamilie abstammte, und hatte es entsprechend schwer Anschluss zu finden.
Thomas hatte seinen Zenit in den 1910er-Jahre erreicht, als es Arbeitsmigranten aus allen Herren Ländern anzog. Die mehrgeschossigen Ziegelhäuser zeugen vom Wohlstand dieser Zeit. Die Häuserzeile beherbergte nebst Kantinen und Bars auch ein Theater und vermutlich etliche Zockerstuben und Bordelle, um die Kumpels von der mühevollen Arbeit unter Tage abzulenken und ihnen das hart verdiente Geld wieder aus der Tasche zu ziehen. Einige der Zechen wurden während der Weltwirtschaftskrise stillgelegt, weitere folgten in den Jahrzehnten danach, als die Dampfmaschinen allmählich durch Dieselmotoren ausgetauscht wurden und immer weniger mit Kohle geheizt wurde. Heute ist nur noch eine einzige Mine operativ tätig. Dafür sind in den Häuserzeilen heute Restaurants, Antiquitätenläden, Galerien und Boutiquen einquartiert. Und eben auch Randis nach Zimt und Orangen duftender Weihnachtsladen.
Einige Meter weiter die Hauptstrasse runter ist der über West Virginia hinaus bekannte Musik-Saloon «The Purple Fiddle» zu Hause. Für 15 $ bekommen wir Einlass und hören rund zwei Stunden Blues, Funk und Soul von John Ellison und seiner dreiköpfigen Begleitband. Der virile 82-jährige feiert heute seinen Geburtstag. Er erzählt Anekdoten aus seiner Jugend, als er, ein schwarzer Junge unter lauter russgeschwärzten weissen Gesichtern, mit 17 Jahren und mit 3.75 $ in der Tasche, nach New York City ausriss, um mit den bekanntesten Musikern seiner Zeit zu spielen und einen der meistgecoverten Hits der Musikgeschichte zu produzieren: «Some Kind Of Wonderful»
Zurück in Virginia, Franklin County
Wir machen halt in einem Diner bei Boones Mill und erkundigen uns bei der jungen Kellnerin nach Moonshine-Distillerien und nach Music Joints wo Bluegrass gespielt wird. Sie gerät etwas in Verlegenheit, nennt uns dann aber die «Twin Creeks Distillery» in Rocky Mount, wo der Schnaps zwar ausschliesslich legal serviert werde, dafür aber auch lokale Bands aufspielen.
Die Touristeninfo von Rocky Mount ist im ehemaligen Bahnhofdepot einquartiert. Der Mann hinter dem Tresen poliert gerade sein messingenes Namensschild, als wir eintreten. Wir erkundigen uns abermals nach Moonshine. Das zaubert ein subtiles Lächeln auf sein Gesicht und er fragt scheinheilig, ob wir eine Unterkunft für unseren Honeymoon suchen. Haha. So langsam drängt sich uns der Verdacht auf, dass hier tatsächlich noch immer illegal gebrannt wird und daher niemand mit der Sprache rausrückt. Oder aber das Ganze ist eine gut geölte Marketingmaschine, die den Mythos der schwarzbrennenden Hillbillies geschäftstüchtig am Leben erhält! Auch er nennt uns nur die ‘offizielle’ Twin Creeks Distillery, drückt uns aber immerhin eine Broschüre in die Hand, die die bekanntesten Musiklokale entlang der «Crooked Road» listet – Orte, wo der traditionelle Bluegrass gespielt wird.
Wir checken erst mal im AirBnB von Anita und Denis ein. Sie besitzen ein hübsches Ziegelhaus mit blumendekorierter Veranda. Im Innern beherrscht eine riesige Pendeluhr den Raum und an den Wänden hängen Ölbilder, die die Landschaft der Appalachen stilisieren oder die den Expansionsdrang der ersten Pioniere romantisieren. Denis und Anita lebten schon beinahe überall in den USA. Sie waren jahrelang als Landscape Manager auf einer Ranch in Wyoming tätig. Das erklärt wohl die Liebe zum Westen und zur Countrymusik. Wir fragen auch sie nach Live-Musik in der Gegend. Ohne Umschweife stellen sie zwei Stühle in die Mitte des Raums und heissen uns auf dem Sofa Platz zu nehmen. Dann holen sie Gitarre und Auto-Harp (einer Art Hackbrett) hervor, setzen sich und tragen uns ihren liebsten Loretta Lynn-Song vor. Denselben Song hatten sie vor einigen Jahren als Andenken an ihren Nashville-Besuch in einem professionellen Studio eingespielt. Heuer unterhalten sie die Senioren in den Altersresidenzen und die Mitglieder ihre Kirchgemeinde.
Am späten Nachmittag besuchen wir endlich die oft genannte Twin Creeks Distillery. Ihr Besitzer, ein Zweimeter-Hüne in Latzhosen, Vollbart und ernstem Gesicht erklärt uns, dass sein Urgrossvater und Grossvater während der Prohibition und danach illegal Schnaps brannten und er, der Enkel, die Familientradition nun auf legalem Weg weiterträgt. Also doch nicht nur ein Mythos! Als wir die ersten Takte von Banjos, Gitarre, Fidel und Kontrabass hören, verschieben wir nach draussen und setzen uns an einem der Tische. Wir machen die Bekanntschaft von Ronda. Auch ihr Vater war Schwarzbrenner. Sie erzählt uns vom lokalen Barbershop, der eine versteckte Türe zum Hinterzimmer hatte – einem sogenannten «Speak Easy» oder «Blind Pig» – wo man zur Prohibitionszeit vor dem Gesetz versteckt, leise flüsternd und zechend dem Moonshine zusprach.
Floyd sieht wie ein altes Westernstädtchen aus. An der Main Street gibt’s überall Sitzecken, wo sich spontan Musiker zusammenfinden. Die alten Männer hocken in eigens mitgebrachten Campingstühlen. Es handelt sich bei ihnen um die Sorte «launige Kauze», die jeden Fremden misstrauisch beäugen und deren Blicke Blitze schleudern, sobald man das Objektiv auf sie richtet.
Wir setzen uns in den «Floyd Country Store». Ein Trio ereifert sich in einem stündigen Bluegrass- Gospel, gefolgt von einer Tanzband, zu der gecloggt wird, was das Zeug hält. Draussen haben sich mittlerweile mehrere Gruppen zu Jam Sessions formiert. Sie bestehen aus einigen Fidelspielern, Gitarristen und ein oder zwei Banjospielern, dazu zupft jemand die Dulcimer oder den Kontrabass. Einer hockt auf einem umgekehrten Waschzuber, der über eine Leine mit einem Stecken verbunden ist und wippt den Fuss im Takt seines improvisierten Bassinstruments. Besonders gefällt uns der «Limberjack». Die Figur ist an einem Stab befestigt und wird über ein elastisches Brettchen gehalten, das die Spielerin unter ihren Schenkel geklemmt hat. Sobald sie mit den Fingern auf das Brett trommelt, steppt die liebevoll dekorierte Figur zum Takt der Musik.
North und South Carolina
Die Berge werden höher, die Täler auslandender, Eichen, Ahorn, Kiefern und Hickorybäume buhlen um Platz und zeigen bereits jetzt im Spätsommer den ersten Hauch sich ankündigender Herbstfarben. Die Rhododendren, Azaleen und Berglorbeer haben sich ihrer Blüten entledigt und machen sich bereit für die ersten Frostnächte, die in den Blue Ridge und Great Smokey Mountains meist früh einsetzen.
Als wir die Grenze nach South Carolina überqueren, flachen die Berge zu Hügeln ab. Entlang der Strasse stehen Baumgruppen, die von wildem Efeu überzogen sind und wie Gespenster unter grünen Leintüchern anmuten. Die Dörfer und Weiler im Hinterland wirken nicht mehr ganz so gepflegt und dann und wann sieht man auch die im Westen der USA üblichen Trailerparks und einfache Holzhütten, vor denen ausgeweidete Autos rosten.
Wir rasten im «Whistle Stop Café», das im Gebäude der ehemaligen Bahnhofsstation eingerichtet ist. Die Kellnerinnen balancieren die mit Bier-Pitchern und Hamburgertellern schwer beladenen Tabletts gewandt um die geschwungenen Eisensäulen, die dem Etablissement den nostalgischen Charme der Vorkriegszeit verleihen.
Georgia
Auf der Fahrt durch das sommerlich heisse Georgia fallen uns Schilder auf, die an den «Trail of Tears» erinnern. Der Pfad der Tränen bezieht sich auf die zwangsweise Umsiedlung der Völker der Cherokee, Choctaw, Creek, Chickasaw und Seminole, die in den 1830er Jahren durch Präsident Andrew Jackson angeordnet worden waren. Die Strecke von Georgia bis zu den ersten Reservaten zog sich beschwerliche 1'000 Meilen über Berge und durch Wälder und Steppen. Viele der Deportierten litten an Hunger und wurden krank. Wer zu schwach war, wurde am Wegesrand zurückgelassen und starb. Diejenigen die es bis in die Reservate schafften, mussten sich gegen die dort ansässigen Stämme behaupten, die nun infolge der Neuzuzüger in ihren angestammten Stammesgebieten bedrängt wurden. Mit der Unterzeichnung des Homestead Act von 1862, der den Siedlern kostenloses Land westlich des Mississippi gewährte, wurden die Indigenen erneut bedrängt. Die Auseinandersetzungen führten zur Intervention der US-Armee. Sie vertrieb die Stämme abermals von ihrem Land und siedelte sie in weiter entfernte Reservate um. Das Ganze kulminierte im «Oklahoma Land Run»: am 22. April 1889, Schlag 12 Uhr, preschten 50'000 landhungrige Siedler in ihren Planwagen los, um sich ein abgestecktes Fleckchen Erde zu krallen.
Auf einem Campingplatz kommen wir mit Sheila und Charly ins Gespräch, die wie wir einen Bulli fahren. Wie so viele Amerikaner, hat auch der pensionierte Charly ein bewegtes Berufsleben hinter sich. Er war unter anderem Greenkeeper. Am 27. August 1990 wurde Charly gegen 1 Uhr früh von seinem Chef aus dem Bett geklingelt; er solle sofort zum Golfclub fahren. Vor wenigen Minuten war dort ein Helikopter abgestürzt. Der Pilot und die Passagiere konnten nur tot geborgen werden. Wie sich herausstellte handelte es sich dabei um Stevie Ray Vaughn mit Band, Michaels Lieblings-Bluesgitarristen, den er nur von Tonträgern kannte. Die Band sollte nach ihrem Gig zum nahen Flughafen transportiert werden, als der Hubschrauber aufgrund widriger Wetterbedingungen beim «Alpine Valley Golf Course» einen Hügel touchierte. Als Charly am Unfallort eintraf, regnete es noch immer 100-Dollarscheine vom Himmel. Sie stammten von der Gage, die Stevie Ray gewohnheitsmässig in bar in seinem Koffer mitführte.
Nashville, Tennessee
Nach einem stündigen Check-In-Prozedere im «Millennium Maxwell House» beschliessen wir unseren Durst in der Hotelbar zu stillen. Dort läuft eine Art Talent Show, wo jeweils vier Musiker mit akustischer Gitarre nebeneinander aufgereiht sitzen, und einer nach dem anderen, einen Song zum Besten geben. Sie werden von einer grauen Eminenz mit zurückgebundenen Haaren und mächtigem Schnauzer und einer Matrone im Ballkleid beurteilt. Die beiden sitzen mit stoischer Miene hinter einem Tischchen und tauschen sich gelegentlich hinter vorgehaltener Hand aus, während im Hintergrund weitere Anwärter in Cowboy Boots und Stetson Hats ihre Gitarren stimmen und auf ihre Chance warten.
Am nächsten Tag ziehen wir ins Appartement unseres «TrustedHousesitters» Gastgebers ein. Während er auf 10-tägiger Geschäftsreise ist, hüten wir seine Katze und dürfen dabei in seinem stilvoll eingerichteten Condo wohnen. Gleich vis-à-vis vom Appartement-Komplex befindet sich der Farmers Market. Wir probieren uns durch die verschiedenen Food-Stalls und decken uns mit Fleisch und Gemüse für die kommenden Tage ein.
Das altehrwürdige Grand Ole Opry House ist restlos ausverkauft. So machen wir uns auf den «Honkey Tonk Highway» zu erobern, der sich eine Meile entlang der Lower Broadway Street zieht. Aus den offenen Fenstern und Türen der Bars und Saloons schallen uns Country, Rockabilly und 90er Countryrock entgegen. Der Eintritt ist meist gratis, die Musiker vertrauen auf Donations des Publikums, wenn sie den Hut rumgehen lassen oder mit einem an den Hals ihrer Geige gehängten Beutel durch die Menge tanzen. Die Bars sind meist langgezogene Räume mit einer Galerie. Auf einer Längsseite ist die Bartheke angeordnet, davor gibt’s einige Tische und wenn es der Platz erlaubt, auch einige Quadratmeter Tanzfläche. Von den Wänden lächeln die gemalten Konterfeis der Country Stars vergangener Tage: Hank Williams, Johnny Cash, Waylon Jennings, Willie Nelson, Dolly Parton, Emmylou Harris. In «Robert’s Western World», unserem Lieblings Honky Tonk, zeugt das von Bier- und Whisky getränkte Holzinterieur von seiner langen Tradition. An den Wänden sind ausgelatschte Westernstiefel zwischen gerahmten Bildern und blinkenden Bier-Neonreklamen aufgereiht, Deckenventilatoren wirbeln kühle Luft in die Niederungen der johlenden und trinkseligen Menge. Auf der Bühne im Eingangsbereich von «AJ’s Good Time Bar» covert eine Band Songs von Alan Jackson, dem dieser Saloon im typischen Nashville Stil gehört. Im zweiten Stock lümmelt ein launiger Gitarrist auf einem Barhocker vor gelangweiltem Publikum, im dritten Stock amüsieren wir uns beim Karaoke ab biertriefend sentimentalen Männerduetten und schlecht getakteten Mutter-Sohn-Einlagen, und schliesslich, auf der Roof Top-Bar, ein weiterer Gitarrist, der Publikumswünsche entgegennimmt und sie mit rauchiger Stimme intoniert.
In «Jack’s Bar-B-Que» bestellen wir Rippchen, die es wahlweise Dry oder Wet (trocken gewürzt oder mariniert) und in den Grössenordnungen Half oder Full Slap gibt. Der Kellner im Cowboylook mit lederner Grillschürze, vermutlich ein ehemaliger College-Footballer, ist bemüht seine Muskelmasse durch die enge Bestuhlung zu navigieren, ohne die Gäste von den Stühlen zu schubsen. Er knallt uns pizzagrosse Pappteller auf den Tisch, auf denen das Rippenstück gute zwei Zentimeter über den Rand ragt.
Während wir Tennessee verlassen, erinnert die nun sehr gepflegte, ländliche Gegend an eine englische Grafschaft: gemähtes Gras bis zu den Eichenbäumen am Waldrand, wo dann und wann ein Rebhuhn auftaucht oder ein Truthahn den dürren Hals aus dem Laub reckt und unserem Fahrzeug mit ruckendem Blick folgt.
Alabama und Mississippi
Je tiefer wir in Alabama hineinfahren, desto eintöniger wird die Landschaft. Die weiten Felder sind abgemäht und das Gras gelbgrün. Nach dem Tennessee River tauchen nun gelegentlich Marschgebiete und kleine Seen auf, die wie Oasen inmitten der braunen Monotonie wirken.
In Tupelo legen wir einen Stopp ein, um Gas zu tanken und erfahren beiläufig, dass dies Elvis Geburtsort war. Eine Viertelstunde später stehen wir vor dem Haus seiner Kindheit. Der King hatte bescheidene Anfänge: Das Häuschen mit Veranda, auf der gerade mal ein Schaukelstuhl Platz findet, misst etwa 3 x 8 Meter und wirkt ziemlich verloren auf dem Gelände des «Elvis Presley Birthplace and Museum». Kaum vorstellbar, dass Elvis Eltern – Vernon war Landarbeiter, dessen Frau Gladys, eine Schneiderin – die Hypothek nicht stemmen konnten, in Zahlungsverzug gerieten, weshalb Vernon für kurze Zeit einsitzen musste.
Wie wir später auf der Fahrt feststellen, existieren diese Art von Kleinstbehausungen noch immer überall im Hinterland von Alabama und Mississippi. Wir sind im tiefen Süden angelangt, im «Black Belt» der USA. Der Begriff stammt aus der Zeit der grossen Baumwollplantagen, als die Arbeit von Sklaven verrichtet wurde. Nach Beendigung des Sezessionskriegs und der Aufhebung der Sklaverei blieben die meisten Afroamerikaner ihrem Fleckchen Erde treu. Die Arbeitslosenzahlen sind hoch, die Armut gross und die Rassenressentiments bestehen noch immer.
Hier war das Stammland des Ku-Klux-Klans (KKK). Er entstand unmittelbar nach Ende des Sezessionskrieges, um die politische Teilhabe der Afroamerikaner zu verhindern. Die Staaten Tennessee, Alabama, Mississippi, Georgia und South Carolina bildeten die Hochburgen rassistischer Aktivitäten gegen die schwarze Bevölkerung. Die Segregation bestand bis in die Zeit der 1960er Jahre, als die Bürgerrechtsbewegung immer mehr an Fahrt aufnahm.
Selma und der Bloody Sunday
Wir stehen auf dem rissigen Asphalt der «Edmund Pettus Bridge» von Selma und suchen nach irgendwelchen Anzeichen der blutigen Auseinandersetzung, die hier vor 58 Jahren ihren Lauf nahm und als «Bloody Sunday» in die Geschichte einging. Der Auslöser war der Versuch von Bürgerrechtsaktivisten, einen Protestmarsch von Selma nach Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, zu organisieren, um gegen die systematische Unterdrückung afroamerikanischer Wähler in den Südstaaten zu protestieren. Als die Bürgerrechtler am 7. März 1965 die Brücke in Selma überqueren wollten, wurden sie von der örtlichen Polizei und bewaffneten Milizen empfangen. Als sie ihren friedvollen Marsch nach kurzer Diskussion fortsetzen wollten, wurden sie blutig niedergeknüppelt. Die live übertragenen Bilder schockierten die Nation und führten zu landesweiten Protesten und Solidaritätsbekundungen und letztlich dazu, dass Präsident Lyndon B. Johnson einlenkte und den "Voting Rights Act" unterzeichnete. Das Bundesgesetz verbietet die Diskriminierung von Afroamerikanern und anderen Minderheiten bei der Wählerregistrierung. Das Gesetz wird heuer ausgehebelt, indem die Grenzen der Wahlbezirke je nach Gusto neu gezogen werden.
Selma scheint auch heute noch von Kampf gezeichnet; zahlreiche Ziegelsteinhäuser am Stadtrand sind verfallen, viele Dächer eingebrochen – vermutlich die Auswirkungen eines ‘Joint Ventures’ von sozialer Ungleichheit, wirtschaftlichem Niedergang, Landflucht und klimatischen Einflüssen – Alabama liegt in der sogenannten «Tornado Alley».
Bei Long Beach gelangen wir an Mississippis Küste. Unsere Augen sind geblendet vom hellen, kilometerlangen Sandstrand. Inselchen von Seegras und einige verlassene Sonnenliegen setzen Kontrastpunkte zum Weiss des Sandes und dem kobaltblauen Wasser des Golfs von Mexiko. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite thronen mehrstöckige Strandhäuser auf fünf bis sieben Meter hohen, flutsicheren Stelzen. Was für ein Kontrast zum ärmlichen Hinterland.
New Orleans, Louisiana
Wir quartieren uns erst in der Herberge «Fleur-de-Lis» ein und schlendern dann entlang der Magazine Street, die in der Mittagshitze vor sich hindöst. Die Strasse verläuft in südlicher Richtung durch die alten Villenviertel des Garden District und in der Gegenrichtung führt sie ans historische French Quarter. Dort, im Schatten, unter den schmiedeeisernen Balkone haben Kartenleger und Weissagerinnen ihre Klapptischchen aufgestellt und verlangen nach unseren Handflächen. Aus schummrigen Vodoo-Shops folgen uns schwarze, von Kajalstift gerötete Augen und glimmende Räucherstäbchen hüllen uns in Patchouli- und Sandalwolken.
Ein Mann mit Gitarrenkoffer steht gedankenverloren vor einer Bar und zieht an seiner Zigarette, während ein anderer an eine Hauswand gelehnt auf der Trompete improvisiert. Stolpernde Junkies schreien ihr Martyrium in die Welt und tanzende Betrunkene belustigen die angeheiterte Menge. Entspannte Locals sitzen in ihren Stammkneipen, sippen an Bier und Bourbon, verleiben sich eine Schüssel Gumbo ein, schwatzen übers Wetter, Pferdewetten und Musik und beobachten den nie endenden Strom von Touristen und Glücksuchenden auf dem heissen Pflaster der Bourbon Street. Wir weichen einem Radler aus, der mit Panama-Hut und offenem Hemd, die Posaune unter den drahtigen Arm geklemmt, geschickt durch die Fussgängermenge kurvt; direkt vor uns trommeln zwei Teenager im Stakkato auf ihre Plastikeimer; dort proklamiert ein Berufener Bibelstellen und warnt vor Sodom und New Orleans; Ramschverkäufer halten uns billige Halsketten ins Gesicht und falsche Mönche und kriegsversehrte Veteranen versuchen ein paar Dollars zu schnorren; Obdachlose liegen in Embryonalstellung in Hausnischen oder quer auf den Sitzbänken der schaukelnden Strassenbahn; Türsteher hinter schwarzen Brillengläsern markieren Präsenz und Rockabillys mit ihren Bellas stehen in Gruppen schwatzend vor den Eingängen der Kneipen. Und überall plärrt Musik. Selbst der Regen, der kurz auf die Dächer und Balkone prasselt, tönt nach jazzigem Snare Dum. «The Big Easy» ist ein Ort für Erwachsene - nicht das kindertaugliche Musik-Disneyland von Nashville’s Broadway. Das bezeugt auch der junge Hot Dog-Verkäufer, der auf seiner Wanderschaft von der Westküste schliesslich hier, in seinem persönlichen Eldorado angekommen ist: «New Orleans is the freest city in the US, Bro. You’d wonder what you can do here.»
Die Stadt am Ufer des Mississippi, umgeben von den Sümpfen und Bayous des Louisiana-Tieflands, war seit ihrer Gründungszeit ein ethischer und kultureller Melting Pot. Zuerst waren da die Choctaw und Houma-Stämme, dann kamen die französischen und spanischen Kolonialherren, die Plantagenbesitzer mit ihren Sklaven aus Afrika und der Karibik und schliesslich die Arbeiter aus Europas Hungergürteln. Aus der Verbindung von Europäern, Afrikanern und Kariben wurde die kreolische Bevölkerung New Orleans geboren. Diese ethnische Vielfalt ist ein wesentlicher Teil dessen, was die Stadt so einzigartig und lebendig macht. Jede Gemeinschaft hat ihre eigenen Traditionen und Bräuche eingebracht und daraus etwas Neues kreiert: der Jazz und Blues entspringt der afroamerikanischen Gemeinschaft und wird auf ursprünglich europäischen Instrumenten gespielt; das jährlich stattfindende Mardi Gras hat katholischen Nährboden, der von afrikanischen Götter- und Ahnenkulten durchwirkt ist; die kreolische Küche bedient sich aus den besten Rezepten und Zutaten der französischen, spanischen, afrikanischen und karibischen Kochtradition – unbedingt ein Jambalaya, Gumbo, Gâteau Patate oder ein Étouffée probieren und zum Dessert in ein frisch gebackenes Beignet vom «Café du Monde» beissen.
New Orleans wichtigstes Ausdrucksmittel aber ist die Musik. Und hier spielt sie:
Die Bourbon Street bietet eine lebhafte Mischung aus Jazz, Blues, Country und Rock. Wir sassen im «The Honkey Tonk» und im «Maison Bourbon».
Die «Preservation Hall» an der Ecke Bourbon Street und St. Peter ist ein alteingesessener Jazzclub und ein Must Hear für Liebhaber des traditionellen New Orleans Jazz.
Die Royal Street ist die temporäre Heimat der Strassenmusiker und Strassenkünstler mit vorwiegend jazzigen Klängen – einfach rumschlendern und reinziehen.
In den Cafés und Bars entlang der Chartres Street wird meist traditioneller Jazz und Blues gespielt – gemütlich reinsetzen und an einem «Sazerac» oder «Hurricane» sippen.
Die Decatur Street erstreckt sich entlang des Mississippi-Damms; wir beobachten gerade, wie das «Steamboat Natchez» vom Dock ablegt und mit seinem Schaufelrad das trübe Wasser aufschäumt, als wir vom Rhythmus stampfender Füsse, dem Rasseln und Wummern von Trommeln und Pauken und dem Scheppern und Dröhnen von Trompeten und Posaunen abgelenkt werden. Wir heften uns an die Fersen einer Brass Band und der hinter ihr her tanzenden Hochzeitsgesellschaft, bis wir in die
Frenchmen Street gelangen. Hier bekommt man vor allem Jazz, Brass und Funk serviert. Wir besuchen «The Spotted Cat«, sitzen im schummrigen «Apple Barrel» (wo man im oberen Stock hervorragend isst), schaukeln im coolen «Blue Nil» und landen zuletzt im «Bamboula's», wo getanzt wird.
Workaway in Arnaudville
Wir folgen dem Mississippi auf der Westseite, entlang grosser Zuckerrohrplantagen und alten Landsitzen, wo Eichen in schnurgeraden Alleen auf Herrschaftshäuser mit Säulengängen und Balkonen zulaufen. Abseits, unscheinbar im Hintergrund, sind die Holzbaracken ehemaliger Sklavenunterkünfte auszumachen. Einige der Plantagen sind noch operativ tätig, andere wurden in Museen umfunktioniert und können gegen horrende Eintrittspreise besichtigt werden.
In Arnaudville haben wir uns für einen zehntätigen Workaway verpflichtet. Wir treffen Yvonne, unsere Gastgeberin. Sie ist eine waschechte Cajun. Es ist zu grossen Teilen Yvonnes verstorbener Mutter, einer ehemaligen Lehrerin, zu verdanken, dass die Kultur und das Französisch der Cajun in der Community erhalten geblieben sind. Das Plantation Home, Baujahr 1830, wurde sukzessive erweitert und beherbergte in Yvonnes Kindheit rund 20 Familienmitglieder. Wir haben das Cottage bezogen, das einige Meter vom Haupthaus entfernt ist. Morgens stehen wir mit der Sonne auf und machen uns auf dem weitläufigen Gelände nützlich, indem wir Totholz sammeln und zu Fire Pits aufschichten. Leider werden wir sie aufgrund der anhaltenden Hitzewelle und der damit verbundenen Waldbrandgefahr nicht aufleuchten sehen. Ennet der Zufahrtsstrasse befindet sich ein Community Garden. Wir befreien den völlig zugewucherten Garten vom Unkraut, bedauerlicherweise halten wir auch die Medizinalpflanzen für solches, hauen mit der Machete den Weg zwischen den Beeten frei und pflücken etwas Baumwolle – die einst den Haupterwerb der Plantation sicherte. Unser Cottage hat auch eine Auffrischung nötig und so spachteln und malen wir die Türen und Fensterrahmen in frischem Weiss.
Abends kochen wir in der geräumigen Küche des Haupthauses und essen, sobald Yvonne von ihrer Schicht im Krankenhaus zurück ist. Manchmal sind Freunde und Nachbarn zu Gast. Heute ist es Paul. Er bringt zwei Flaschen Wein, Yvonne bereitet ein leckeres Crawfish Étouffée.
‘Sittin’ by the Bayou’ – was den Griechen das Meer, ist den Cajuns ihr Bayou. Da hocken sie unter alten Magnolienbäumen, fächeln die Hitze weg, schlürfen eine «Cajun Lemonade» (Zitrone, Zucker, weisser Rum, Chillisauce und ein Spritzer Soda) und erfreuen sich am Spiel der Moskitos auf dem trägen Wasser eines Flüsschens oder mangrovenbewachsenen Tümpels. Und so sitzen wir selbst auf dem Vorplatz der «Bayou Teche Brewery», süffeln Bier und probieren eine Boudin, eine lokale Wurstspezialität, die aus Schweinefleisch, Reis, Zwiebeln und einer speziellen Gewürzmischung zubereitet ist. Im Hintergrund haben sich einige Musiker unter einem Baldachin zur Jam Session eingefunden und spielen in wechselnder Besetzung auf ihren Gitarren, Banjos und Fideln wehmütige Cajun-Songs und lüpfige Polkas.
Nach fünf arbeitsintensiven Tagen gönnen wir uns eine Auszeit auf dem nahen Lake Martin. Mike, unser Guide, zeigt uns wie man mit den Kajaks durch die Mangroven navigiert. Wir beobachten Kanadareiher, die ihre Flügel in der Sonne trocknen, einen Rosalöffler, der seinen Namen der Gefiederfarbe und seinem schöpfkellenartigen Schnabel schuldet, Schmuckreiher mit schwarzen Stelzen und gelben Füssen und einen markant hässlichen, grauen Vogel mit kahlem Kopf und langem Schnabel, der seine Flügel wie ein Exhibitionist die Mantelschläge zur Seite hochhält und uns seinen nackten Bauch präsentiert. Wir paddeln durch den lichten Mangrovenwald und entdecken einige Alligatoren vor uns im Wasser, die sich leise davonstehlen. Die Sichtung der bis zu zwei Meter grossen Echsen bestärkt uns in der Absicht, auf keinen Fall kentern zu wollen.
Bei Sonnenuntergang sammeln sich Schwärme von Schwarzreihern und Löfflern in den Bäumen, wo sie lautstark ihren Platz behaupten. Die letzten Sonnenstrahlen brechen durch die langen Moosbärte der Bäume und lassen deren Säume orangerot aufleuchten. Wir beeilen uns noch vor der Dunkelheit und der Ankunft der Moskitos ans sichere Ufer zu gelangen.
Am Wochenende zelebrieren wir das Cajun Life mit guter Musik und Tanz. Freitags spielt Tommy McLain, nach mehrjähriger Absenz, in Lafayettes «Parc Sans Souci» vor heimischem Publikum. Das lange erwartete Comeback fällt nach nur drei Songs ins Wasser, als sich ein Gewitter über der Stadt entlädt, begleitet von heftigen Böen und waagerecht anpeitschenden Regenschauern, die uns klitschnass in der nahen Parkgarage Schutz suchen lassen.
Tags darauf hat sich der Himmel aufgeklart und wir besuchen das Sugar Cane Festival in New Iberia. Die kulturellen Ausprägungen der Cajun (ehemalige Kanada-Arkadier) und der Zydeco-Community (franko-kreolischen Ursprungs) lassen sich hier schön beobachten. Die Leute tragen nebst den gewohnten T-Shirts, Baseballcaps und Sneakers oft auch Hemden und Westen, Cowboyhüte und Stiefel. Während die Cajun-Musik von französischen Melodien geprägt und von Fideln, Gitarren und Akkordeon begleitet wird, ist der Zydeco stärker von afrikanischen Rhythmen dominiert und wird auf dem Akkordeon, dem Waschbrett und Schlagzeug gespielt.
Am Sonntag beschliessen wir unser musikalisches Wochenende im «Rock ‘n’ Bowl». Wo auf der einen Hälfte der Bowlinghalle Kugeln in die Kegel krachen, stehen auf der anderen Seite «Geno Delafose und seine French Rockin’ Boogie» auf der Bühne. Zu ihren Füssen tanzt das gemischte Publikum Walz, Jitterbug und Two Step. Vielleicht sind es die gemeinsame Liebe zur Musik, zum Bayou und das Schicksal der Unterdrückten, die diese zwei Nischengruppen der amerikanischen Gesellschaft, ehemalige Deportierte aus den franko-kanadischen Kolonien und ehemalige Sklaven von den Baumwollfeldern Louisianas, an Orten wie diesen zusammenführt. Wir versuchen uns etwas abseits der Tanzfläche im Zydeco Walz und nehmen die gelegentliche Havarie mit Bowlinginseln und dem Bartresen in Kauf.
Unseren letzten Abend auf der Farm verbringen wir in geselliger Runde beim gemeinsamen Supper. Es gibt Langusten, Crevetten, Boudains, Reis und Okra. Wir haben die Gegend, das Essen und die Kultur hier lieben gelernt; wir tragen die Cajun und Zydeco Musik im Herzen und haben das allgegenwärtige Y’all (ihr alle) in unseren Wortschatz aufgenommen. Doch es ist an der Zeit die Reise fortzusetzen. Bereits in wenigen Tagen wollen wir in Mexiko ankommen und es liegen noch einige Meilen zwischen hier und unserem nächsten Etappenziel.
Texas
Am Golf von Mexiko angelangt, fahren wir durch mondäne Badeorte und schwenken schliesslich für die letzte halbe Stunde Fahrt auf den Sandstrand, der sich sichelförmig vor uns erstreckt. Eine etwas seltsame Type begrüsst uns in breitestem Texas-Slang und verspricht uns hier das Paradies auf Erden: fischen, Bier saufen und jede Menge Fun.
Wir verlassen die Küste und fahren westwärts durch öde Landstriche, wo Ölpumpen und Longhorns ihr Tun auf sonnenverdorrten Weiden verrichten. Am selben Tag noch gelangen wir nach Laredo. Es gibt das amerikanische Laredo und das angrenzende mexikanische Nuevo Laredo. Doch schon auf amerikanischer Seite wähnt man sich in Mexiko. Alles ist in Spanisch angeschrieben, im Waschsalon wird nur Spanisch gesprochen und die üblichen amerikanischen Fast Food-Ketten werden von Taco-Läden in die hinteren Ränge verwiesen.
Wir fahren früh los und schaffen es ohne Komplikationen durch den Zoll. ¡Viva Mexico! Aber auch ¡Viva la Revolución!; wir sind gewarnt worden vor Halsabschneidern, die das nördliche Grenzland unsicher machen.
Mehr Bilder zu unserem Roadtrip durch Kanada und die USA gibts in der Fotogalerie