Auf einer Ranch, irgendwo in Saskatchewan
Morgen
Der Wecker geht ab. Ich quäle mich steif und zerschunden aus dem durchgelegenen Bett. Ein paar Spritzer Wasser ins Gesicht, Zähne geputzt und in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Jeder bereitet sich das Frühstück selbst zu. Für Tanja wie immer süss, mit Erdnussbutter und Saskatoonberry-Jam, für mich salzig – eine Maiswaffel mit Cheddar und Aufschnitt.
Kelly, Inhaberin der Ranch und unser Boss, setzt sich zu uns an den Tisch. Wir besprechen den Tagesablauf. Die morgendlichen und abendlichen Routineaufgaben beinhalten das Füttern und Tränken der Tiere. Für uns wichtiger zu erfahren ist, was in den Stunden dazwischen passiert. In der Regel fallen Reparaturarbeiten an den Zäunen an, Dachschindeln müssen mit Teer abgedichtet werden, Pferde für die Reitstunden vorbereitet sein, Kontrollritte auf den Kuhweiden erfolgen, das Gras gemäht und Einkäufe getätigt werden. Alles übrige, und das kann beinahe schon mit Gewissheit gesagt werden, ist flexibles Reagieren auf Unvorhergesehenes.
Wir sprechen uns kurz mit Béatrice ab, unserer französischen Mithelferin, und treten hinaus auf die Veranda. Die Luft ist kühl und rein. Die aufgehende Sonne taucht den Hof in ein rosa Licht. Hinter den rostroten, verstreut liegenden Schuppen im Osten bildet sich ein Lichtkranz, der dem Ganzen eine sakrale Aura verleiht. Im Nachbarhaus ist noch kein Licht zu sehen. Brownie, Kellys liebenswerter Nachbar, lässt sich noch bis mindestens 10 Uhr Zeit. Brownie ist 83 und geht das Leben gemächlich an. Wenn er Lust hat, mäht er die Grasfläche vor Kellys Haus, verbrennt den Abfall in einer der drei rostigen Tonnen auf dem Hof, kümmert sich um Reparaturen im Haus oder werkelt an einem seiner Autos rum. Sein Name ist dem Umstand geschuldet, dass er just in den Momenten auftaucht, wenn Schokolade und Kuchen aufgetischt werden.
Auf der Veranda bereiten wir die Maische für die Pensionspferde vor, die ihre Spezialdiät allerdings erst abends erhalten. Die Katzen und Hunde bekommen ihr Trockenfutter, das Kaninchen Burrito seinen Löwenzahn. Der Joghurtbecher mit den Gemüseabfällen und etwas Hafer gibts für das Hängebauchschwein Wilbur. Als er mich kommen sieht, befreit sich der borstige kleine Kerl aus seinem Strohnest und steht am Futterplatz bereit. Wilbur ist immer am Schmatzen, egal zu welcher Tageszeit. Keine Ahnung, wo er den steten Futternachschub hernimmt. Nun mischen wir das Futter für die Lämmer und Hühner ab. Niemand von uns mag die Schafe füttern, denn kaum kommen wir mit den Futtereimern um die Ecke vom Hühnerhaus und in Sichtweite der Tiere, schmettern sie uns ein durch Mark und Bein gehendes «Määäääääh» entgegen. Es tönt wie ein rausgekotztes «Hääääär mit dem Futter!» Wer’s selbst ausprobieren möchte, hier eine Anleitung zum Selberblöcken: Mund zu Dreiviertel öffnen, Kiefer einhängen, Zunge halb raushängen und dann aus voller Kehle «……..» (es muss Kratzen im Hals)!
Die Tiere sind unheimlich gierig. Selbst wenn sie zu den ersten gehören, die’s an den Futterkübel schaffen, treibt es sie bereits nach wenigen Bissen zum nächsten, der natürlich genauso belagert ist. Sie sprinten los, nehmen einen Satz über die Rücken der anderen und tauchen kopfüber ein ins Gewirr der konkurrierenden Schafsköpfe.
Die Hühner sind da deutlich relaxter. Das Eiereinsammeln gelingt mit etwas Übung schon recht ordentlich. Man schiebt eine Hand vorsichtig unters nördliche Ende des Huhns, tastet sich langsam an die Eier heran und zieht eins nach dem anderen sanft unter dem Federbauch hervor. Eine falsche Bewegung und die Hand wird mit empörten Schnabelhieben attackiert.
Danach sind die Zwergponys und die Zwergeseldame Dharma an der Reihe. Drei Gabeln voll Heu für die zwei dominanten Ponys, die schicksalsergebene Dharma begnügt sich mit dem, was übrig bleibt.
Wir gehen rüber zu den Pferden, führen die Wallache (kastrierte männliche Tiere) von der Tränke zurück auf die Weide und holen die Stuten raus zur Tränke. Kelly beauftragt mich, Teddy zu holen. Das Pony hat’s auf der Lunge und benötigt Medizin. Das Problem ist nur, dass Teddy die Weide mit Buffy teilt, und Buffy ist eine gewaltige Bisondame. Mit dem Halfter in der Hand schleiche ich mich aufs Feld und versuche, Buffy gegen die Morgensonne zu entdecken. Geblendet bleibe ich im Ungewissen über ihren Aufenthaltsort, aber eines weiss ich mit Sicherheit: die Bisonlady steht irgendwo in der Nähe und beobachtet jeden meiner Schritte …
Nachdem die Fütterung erledigt ist, ist’s Zeit für eine kurze Pause. Ich biete an, die Eier ins Haus zu bringen, und nutze die Gelegenheit, um kurz abzuhocken und einen zweiten Becher Kaffee zu geniessen. Doch kaum habe ich angesetzt, streckt Kelly den Kopf aus der Bürotür und meint, ich solle die anderen ins Haus holen. Der Nachbar hat angerufen: Kellys Kühe grasen auf seinem Feld! Wir sprinten nach draussen, suchen unsere Pferde auf den Weiden und satteln auf. Keine leichte Aufgabe für uns. Wie war das nochmals mit der Reihenfolge der Gurte? Das Halfter wegnehmen oder unter dem Zaumzeug belassen? Den Sattel von links oder rechts auflegen? Kelly bleibt äusserlich ruhig, aber ihre Blicke drücken wenig Gelassenheit aus. Sie führt unseren Reittrupp an. Kaum auf der kiesigen Zufahrtsstrasse angelangt, verfällt sie in schnellen Trab. Ich bin das Schlusslicht der Kolonne und kann mich nur mit Mühe im Sattel halten. Verdammt, Kelly müsste doch wissen, dass sie es mit Rookies zu tun hat! Wie wär’s mal mit zurückblicken, ob noch alle oben hocken? Auf dem Feld angelangt entdecken wir nichts, was nach Kuh aussieht. Nach einigen Minuten machen wir ein paar schwarze Punkte in der Ferne aus. Wir nähern uns bis auf 50 Meter. Die Kühe merken, dass sie gestellt sind, und stieben in verschiedene Richtungen davon. Wir teilen uns auf: Tanja reitet mit Kelly, Béa (eine sehr erfahrene Reiterin) und ich bilden das zweite Team. Wir treffen uns später in der Mitte des Feldes wieder. Noch immer fehlen Kühe. So treiben Béa und ich die bereits eingesammelten Tiere zurück auf die Ranch, während die anderen zwei weitersuchen.
Späterer Vormittag
Wir sind spät dran. Kelly ist mit Don, einem Getreidehändler, verabredet.
Ausser den Kühen bekommen alle Tiere vorwiegend Hafer zu fressen. In der grossen Scheune lagert das Getreide in einer überdimensionierten, mannshohen Tasche mit gut 1.5 Meter Durchmesser. Von dort füllen wir den Hafer in Eimer ab, die wir dann mit der Schubkarre zum Futterschuppen transportieren, wo wir die Rationen mit Futterzusätzen abmischen.
Wir fahren durch Meadow Lake, einer Kleinstadt mit rund 5’000 Einwohnern, mit der leeren Getreidetasche auf der Ladefläche. Das Industriequartier mit Baufirmen, einigen Tankstellen und Garagen zieht sich entlang der linken Seite der Hauptstrasse hin, während auf der anderen einige Fast Food Läden, der Co-op, ein Liquor Store, und ein Hardware Store zu finden sind. Einige Meilen weiter gelangt man ins Zentrum, mit dem Post Office, einem Kino, einem weiteren Liquor Store und einigen zwielichtig wirkenden Bars. Die Wohnhäuser, die teilweise aus einfachen Trailern (mobile Häuser) zusammengesetzt sind, machen einen bescheidenen Eindruck. Direkt an Meadow Lake grenzt eine Reservation der «Flying Dust First Nation», die zu den Cree zählen – dem grössten Stamm der Indigenen Nordamerikas.
Wir fahren auf das Areal des Getreidehändlers. Vier Mann sind permanent damit beschäftigt, Getreide von den rund 4’000 Acres Land zu ernten, zu trocknen und in den Silos zu lagern.
4’000 Acres (rund 16 km2) entsprechen in etwa der Fläche der Stadt Biel oder 2’500 Fussballfeldern.
Die Getreidetasche wird unter dem Silo platziert, der Hafer abgefüllt und schliesslich mit dem Hubstapler auf den Pickup geladen. Auf dem Rückweg drücken rund 1.5 Tonnen auf die quietschenden Achsen.
Mittag
Es ist bereits halb eins und unsere Mägen biegen sich vor Hunger. Auf dem Tisch stehen stets drei bauchige Flaschen mit Trinkwasser aus eigener Quelle, ein 5-Liter-Kübel mit Honig und gesalzene Butter. Wir wechseln uns ab mit kochen, wobei wir Béa gerne den Vortritt lassen. Sie ist eine vorzügliche Köchin und serviert zu jeder Mahlzeit (verschiedene Quiches, Gratins, manchmal Lasagne) ein leckeres Dessert. Heute ist es eine Tarte de Pomme mit geschlagenem Rahm. Fleisch ist Bestandteil jeder Mahlzeit: meist hauseigenes Rindfleisch, manchmal Lamm oder Elch und ab und zu Huhn. Vor dem Schöpfen spricht Kelly das Tischgebet: “Thank you for the work we have accomplished and for the fun we had. Thank you for this meal, make it to our use and bless the hands that prepared it. And bless all that are in need for help and healing.” Abgeschlossen wird das Gebet mit dem neuen, unserem Einfluss geschuldeten «En Guata». Aus Kellys Mund tönts wie Bündnerdialekt.
Nach dem Essen sitzen wir alle in der Stube, schlürfen einen Tee oder Kaffee, lesen, surfen in den Social Media, hören Musik oder dösen einige Minuten. Ich schaue mich um. Der Boden ist ausgelegt mit dicken Teppichen. Entlang der Wände sind Lüftungsschlitze eingelassen, die vor allem nachts röhrend Warmluft in die Räume blasen. Neben meinem bevorzugten Schaukelstuhl thront ein wuchtiger Ledersessel mit ausklappbarer Fussstütze. Lehne und Sitzfläche sind mit einem weissen Stierfell drapiert. Das ist Kellys Platz und die Domäne von Fluffy, der weissen, übergewichtigen Hauskatze, die selten bereit ist, Kelly mehr als zwei Handbreit zu lassen. Gerade ausreichend Platz für Kellys schlankes Skelett. Daneben steht eine einfache Holzbank mit Kissen und ein weiterer Sessel. Dort machen es sich Kellys Freundinnen Amanda und Debbie bequem, die oft unangemeldet auftauchen, um ein Schwätzchen zu halten und von Béas Leckereien zu kosten. Hinter der Sitzgruppe steht ein Schrank mit Vitrine, in dem verstaubte Pokale von Reit- und Curlingturnieren ausgestellt sind. An den Wänden hängen Malereien von Pferden und Cowboys, die Stirnpartie eines Longhorns, von der eine Medaille baumelt, einige Familienportraits sowie eine deutsche und eine irische Fahne.
Kelly ist irisch-deutscher Abstammung. Ihr Grossvater war Agent in einem Indianerreservat, die Eltern Rancher, die Rinder und Pferde züchteten. Kellys Mann verstarb vor einigen Jahren, die Kinder sind weggezogen und seitdem führt sie die Ranch allein, unterstützt von freiwilligen Helfern. Eine Ranch in dieser Grössenordnung rentiert eigentlich nicht. Um die Tradition am Leben zu erhalten, wird die Rancharbeit oft von den Frauen weitergeführt, während die Männer auf den Ölfeldern oder in den Wäldern arbeiten.
Nachmittag
Ich schnappe mir die Motorsäge aus der Garage, wie Kelly den Schuppen nennt, der mit allerlei Werkzeug, Zaundraht, Benzin- und Ölkanistern, Haufen von rostigem Metall, Ersatzteilen und ausrangierten Motorblöcken vollgestopft ist. Ich mache mich zu Fuss auf zur rund 2 Kilometer entfernten Ostweide, die von Bäumen gesäumt ist, um die Stacheldrahtzäune von Buschwerk und tiefhängenden Ästen freizumachen und um morsche Bäume umzutun, die im Winter ob der Schneelast auf die Zäune krachen könnten.
Währenddessen bereiten Tanja und Béa die Pferde für das «Equestrian Assisted Learning» vor. Das EAL ist ein pädagogischer Ansatz, bei dem Pferde und pferdegestützte Aktivitäten in Lern- und Entwicklungsprozesse einbezogen werden. Kelly geht es darum, Kinder in ihren sozialen Interaktionen zu schulen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Tanja und Béa assistieren Kelly bei der Arbeit. Die Kids werden spielerisch in den verschiedenen Reittechniken geschult, indem sie imaginäre Kühe durch die Reitarena treiben.
Die Reitstunden mit den Erwachsenen werden oft mit einem Trail Ride kombiniert. Bei einem solchen Ausritt durch die Wälder gelangen wir zum nahen Nesset Lake. Von einer Anhöhe im Wald entdecken wir zwei Elche weiter unten im Dickicht. Die Pferde sind nervös, Tex, Kellys Pferd, scheut und die zwei Geweihträger verschwinden sofort im dichten Grün. Wir reiten runter zum See, durch Marschland und mit hochgezogenen Beinen durch einen trägen Bach, eine Böschung hoch bis zu einem zugewucherten Pfad. Laut Kelly wurde dieser bereits von den ersten Siedlern mit ihren Planwagen auf dem Weg nach Westen genutzt.
Nachdem die Pferde versorgt sind, machen wir den Pferdetrailer für morgen bereit. Jeden Donnerstag verladen wir die Pferde und fahren raus auf die rund 20 Meilen entfernte «North Ranch», um nach den Kühen dort zu sehen.
Kelly besitzt zwei grosse Weideflächen mit insgesamt rund 120 Kühen und fast ebenso vielen Kälbern. Dazu kommen vier Bullen, die jeweils zwischen 30 und 40 Kühe decken. Kellys potentester Bulle war ein texanisches Longhorn. Nachdem das Tier einen Kontrahenten zu Tode spiesste, hatte sie die Gelegenheit, es günstig zu erwerben. Der Bulle war ein absoluter Glücksfall; er brachte es auf rund 50 trächtige Kühe pro Saison. Zum Gedenken an seine Verdienste hängt sein Schädel an prominenter Stelle im Wohnzimmer.
Die Weiden der North Ranch werden wöchentlich auf den Pferden abgesucht, um sicherzustellen, dass alle Kühe vollzählig und gesund sind. Wir teilen uns auf und suchen die Felder und Wälder ab, dabei koordinieren wir uns mittels Mobile Phone. Kelly möchte die Herde jeweils in einem bestimmten Sektor haben. Wenn wir auf unserem Trail eine Gruppe der Tiere antreffen, dann treiben wir sie in die entsprechende Richtung. Dabei müssen wir immer wieder absteigen, um die Zäune zu öffnen und wieder hinter uns zu schliessen oder um Reparaturen auszuführen.
Manchmal verstecken sich die Kühe im Wald. Das Reiten zwischen den Bäumen ist recht abenteuerlich, da die schmalen Ulmen und Birken nahe beieinanderstehen und man sich leicht ein Bein bricht, wenn man das Pferd zu eng um einen Baum manövriert. Die Äste hängen tief und es liegt viel Totholz auf dem Boden. Deshalb trägt man in Saskatchewan bei der Arbeit eher einen Helm als den sonst üblichen Cattleman-Hut.
Die Pferde bewegen sich im Schritttempo durch das hüfthohe, wiegende Gras. Die Sonne scheint durchs Laub und die gelben Blätter kreiseln im Wind und zaubern eine leise Melodie. Doch uns erwartet eine schwierige Aufgabe an diesem milden Herbsttag. Wir müssen die zwei Bullen von den Kühen trennen und in einen separaten Corral treiben, damit der Veterinär nach ihnen sehen kann. Wir benötigen eine halbe Stunde, bis die beiden Hitzköpfe voneinander ablassen und sich in die gewünschte Richtung bewegen. Das ist nicht ungefährlich für uns, die wir versuchen, die Tiere voneinander zu trennen und in Schach zu halten. Doch Béa auf ihrem riesigen, grauen Wallach stellt sich den Tieren eins ums andere Mal in den Weg, bis die Bullen schliesslich aufgeben und sich fügen. In ihrem Adrenalinrausch kann es schon mal passieren, dass die Tiere auch mitten durch einen Stacheldrahtzaun stürmen. Das Reparieren oder Installieren der Zäune ist daher nebst den täglichen wiederkehrenden Aufgaben des Fütterns und der Futterbeschaffung (Heuballen rumkarren, Gras mähen) eine regelmässig anfallende Arbeit. Schuld daran hat in erster Linie Elsa, die weisse Leitkuh. Sie entdeckt fast täglich neue Lücken im Zaun und verführt ihre Gefolgschaft dazu, die vermeintlich saftigeren Weiden der Nachbarsranch aufzusuchen.
Das Fencing (Zäunen) funktioniert folgendermassen: in endlosen Wiederholungen schraubt man einen Lochspaten in die Erde und befördert Pfropfen aus Erde und Steinen an die Oberfläche, bis man ein rundes, knietiefes Loch ausgehoben hat. Dann versenkt man einen zugespitzten Holzpfosten von rund 180 cm Länge im Loch und hämmert ihn mit dem «German Hammer», einer massiven Metallhülse mit Henkeln, tiefer ins Erdreich. Der Pfosten muss rund 70 cm vergraben werden, damit er dem Gewicht der Kühe (rund 700 Kg) und den sporadisch durchziehenden Elchen und Hirschen standhält. Steht der Pfosten, werden vier Reihen Stacheldraht zwischen die Pfosten gespannt und mittels einem Spannwerkzeug gestrafft, die losen Enden ineinander verdreht und die Drähte schliesslich mit U-Nägeln an den Pfosten gesichert. Eine schweisstreibende Arbeit.
Abend
Nach Beendigung der abendlichen Chores müssen wir noch kurz ins Bunk House (Schlafräume der Arbeiter), ein Zimmer vorbereiten. Der lottrige Bau hat einen mit ausgetragenen Kleidern und Stiefeln vollgepfropften Aufenthaltsraum mit Küche sowie vier kleine Zimmer, in denen weitere Ranchhelfer oder Gäste untergebracht werden können. Die Zimmer bieten gerade genug Platz für ein Bett, einen Stuhl, eine kleine Ablage und ein elektrisches Heizgerät. Heute Abend wird Kellys Schwiegersohn Chris eintreffen, der in der Jagdsaison hier nächtigt, bevor er frühmorgens in den Wäldern rund um den Nesset Lake auf Elchpirsch geht.
Wir arbeiten täglich rund 12 Stunden, an sechs Tagen die Woche. Dabei legen wir zwischen 12 und 20 Kilometer zu Fuss und zu Pferd zurück. Doch für heute ist es geschafft. Müde stapfen wir die Treppe zur Veranda hoch. Im Vorraum entledigen wir uns der endverschmierten Stiefel und der verschwitzten Jacken.
Ich streife meine geliebten Handschuhe ab. Das ursprüngliche Gelb ist einem schmutzig-grauen Farbton gewichen und das einst geschmeidige Material ist steif und zerschlissen. Die hirschledernen Finger haben Hämmer und Zangen, Ketten- und Handsägen, Schaufeln und Spaten, Beile und Heugabeln gehalten; sie sind zwischen Stacheldraht, Nägel und Holzplanken geraten; sie haben Bretter, Kessel, Heuballen und ein neugeborenes Kalb getragen; sie haben Zügel geführt, Pferdehälse getätschelt, auf Kuhhintern geschlagen, Hunde und Katzen gestreichelt und Steine nach Kojoten geworfen; sie haben Eis aus Trögen geschöpft, verschüttetes Öl von Motorblöcken gewischt und vor pickenden Hühnerschnäbeln und beissender Kälte geschützt. Sie haben mir Schutz und Wärme gespendet, wie ein guter Freund!
Zeit für etwas Körperpflege. Danach gehts in die Küche, das Essen vorbereiten. Wir entzünden ein Bonfire im Hof, braten Würste und Marshmallows am Spiess, trinken etwas Bier, Wein oder Whisky, wärmen uns die Füsse an der Glut, betrachten den Sternenhimmel und die Nordlichter und erzählen uns Geschichten. Ums Feuer sitzen und Geschichten erzählen hat eine lange Tradition im Westen. Es gibt sogar Storyteller, die sich einen einträglichen Nebenerwerb mit ihren Erzählungen von Pionieren und Cowboys schaffen.
Ansonsten gibts nicht viel zu tun auf dem Land. Während eines unserer raren, freien Abende, wir sind gerade auf dem Heimweg von einem Konzert der lokalen Fidler-Grösse Calvin Vollrath, kommt uns eine Reihe von Autos auf der sonst vereinsamten Strasse entgegen. Kelly sinniert: There must have been another major event this evening. Was das für ein Event gewesen sein könnte, fragen wir. Vermutlich ein Bingo-Abend.
Also besuchen wir einige Wochen später einen solchen. Wir kaufen ein paar Bingo-Karten und Softdrinks und werden an einen freien Tisch in der grossen, neonlicht-erleuchteten Halle geleitet, wo wir von einer hilfsbereiten Bingo-Veteranin in die Spielregeln eingeführt werden. Die Ansagerin leiert die Zahlen runter. Wir schielen auf die Leuchttafel, um uns zu vergewissern, dass wir sie richtig verstanden haben, und fahren mit dem Stempel in der Hand hektisch über die Zahlenreihen. Das Ganze geschieht in sportlichem Tempo, aber es lohnt sich bei der Sache zu bleiben, schliesslich locken Gewinne von bis zu 25'000 Can$. Aber leider nicht für uns, nicht an diesem Abend.
Nacht
Das Ranchleben hält Einzug in meine Träume: Ich sitze am Steuer des Chevy-Van und fliehe vor Clint Eastwood, der mich in einem Pickup-Truck verfolgt. Ich versuche verzweifelt Clint abzuhängen, indem ich wie verrückt um Scheunen und Ställe kurve. Irgendwann hat er die Schnauze voll: er steigt aus seinem Truck, deutet mit zusammengekniffenen Augen auf mich und fordert mich zum Duell! Er trägt denselben Poncho und Hut wie in «Zwei glorreiche Halunken», nur dass er statt dem Colt eine Mistgabel in der Faust hält. Der Wecker rettet mich vor dem sicheren Tod durch Aufspiessen.
Das Leben auf der Ranch ist auch im realen Leben nicht ungefährlich; wir werden von Kälbern getreten, von Spinnen gebissen, von Stacheldraht geritzt und von rostigen Nägeln gestochen. Einige weitere Missgeschicke in dieser Zeit gefällig? Kellys Pferd tritt in einen Kaninchenbau und strauchelt, Kelly stürzt und wird von den ausschlagenden Vorderläufen getroffen. Das Resultat: drei gebrochene Rippen. Nur ein paar Tage später bricht sich ihre Enkelin bei einem Reitunfall beide Handgelenke, und die Helferin einer benachbarten Ranch quetscht sich an der Holzspaltmaschine die Fingerkuppen.
Tanja und ich leisten unseren Handicap-Beitrag am exakt selben Tag. Das Unglück kündigt sich bereits frühmorgens an. Als ich auf die Veranda trete, beisst sich ein unsteter, kalter Wind sofort unter meiner Jacke fest. Eine pinkflammende, vom Nebel verschmierte Sonne steht tief über den Baumwipfeln. Ein unbestimmtes Gefühl von Gefahr kriecht in mir hoch. Dieses Gefühl verstärkt sich, als ich auf dem Pferd sitzend feststelle, dass ich meine leichten Trekkingschuhe anhabe, anstatt meiner stabilen Lederboots. Der Wind und die seltsame Sonnenkonstellation machen die Pferde kirre. Wir haben schon Mühe gehabt, sie von der Weide zu holen und beim Aufsatteln ruhig zu halten.
Wir reiten auf die grosse Weide auf der Suche nach der Kuh mit der Nummer 378 und ihrem Kalb. Bereits nach 10 Minuten entdecken wir sie. Da sich Kühe ausserhalb ihrer angestammten Herde nicht bewegen, nehmen wir einige andere Tiere mit in unseren kleinen Tross. Wir treiben sie quer durch den Corral zu einer Bretterwand, die auf das Tor zum Sortiergehege zuläuft. Unsere Nummer 378 tanzt ständig aus der Reihe und muss mühsam wieder zurückgetrieben werden. Bei einem dieser Manöver bedrängt Tanjas Pferd die Kuh etwas zu arg, woraufhin diese bockt und die Hinterbeine verwirft. Das passiert direkt vor meinem Pferd, das daraufhin ebenfalls bockt und mich in hohem Bogen auf den harten Boden spediert. Ich lande auf dem Rücken und bin erstmal ausser Gefecht gesetzt. Ein paar Minuten später staucht sich Tanja den Nacken, als sie unter einem Torbogen durchreitet und den Kopf zu spät einzieht. So kommt es, dass wir am nächsten Tag einen Familientermin beim lokalen Chiropraktiker haben. Dessen Kundschaft besteht übrigens grösstenteils aus Kuhtreibern.
Abschied
Für unsere Mühen und geschundenen Knochen werden wir an Thanksgiving mit Weinsuppe, einem gefüllten Truthahn mit zusätzlicher Pilzfüllung, Kartoffelbrei, grünen Bohnen, Cranberrysauce, Maisbrötchen und Kuchen belohnt.
Wir haben bereits die ersten Frosttage. Morgens müssen wir zuerst die Eisschicht in Wassertrögen und Futternäpfen einschlagen. Das Gras wird weniger und wir karren regelmässig Heuballen auf die Weiden. Nun wird es Zeit, die Kälber von ihren Müttern zu trennen und auszusortieren – die männlichen Tiere werden in den Trailer verladen und zum Stockyard gefahren. Das ist der Ort, wo die Rancher ihre halbjährigen Tiere an die Mastbetriebe verkaufen.
Der Winter hält Einzug, mit heftigem Schneefall. Das umtriebige Ranchleben kommt zur Ruhe. Bei Temperaturen von -40° Celsius lässt sich nicht mehr viel bewegen. Kurz nach Halloween verabschieden wir uns von unseren neuen Freunden und den lieb gewonnenen Tieren und verlassen die Ranch in Richtung Vancouver. 1600 km vereiste Highways liegen vor uns.