Dagestan, Tschetschenien und Kalmückien
Ohne Fähre blieb uns nur der Weg durch Russland um das Kaspische Meer herum, um nach Kasachstan zu gelangen. Obwohl das Eidgenössische Departement des Äusseren (EDA) von Dagestan abrät, wollten wir das Maximum aus den sieben Visatagen in Russland herausholen. Im Dorf Kubachi, so lasen wir, tragen alle Frauen zu besonderen Anlässen ein weisses Kopftuch. Zudem ist es für seine Silberschmiedekunst bekannt. Das Navi gab uns für die 90 Kilometer ab Derbent gleich viele Minuten Fahrzeit an. Doch ziemlich genau in der Hälfte endete die asphaltierte Strasse und ging in eine steile Piste über, die in etwa einem Schweizer Wanderweg gleichkommt. Wir benötigten über drei Stunden für die restlichen 48 Bergkilometer und kamen entsprechend erschöpft an.
Ob sich dieser Aufwand gelohnt hat? Unbedingt! Die terrassenförmige Landschaft erinnerte uns an eine überdimensionale Kuchenglasur, nur von kleinen Weilern unterbrochen. Die Staubpartikel in der Luft liessen die entfernteren Bergrücken nur als diffuse Schemen erkennen. Kubachi liegt auf 1800 Meter Höhe und besteht aus einem alten Dorfkern, wo die Häuser ineinander verschachtelt stehen, und einem neueren Teil, der sich weit über die Hänge zieht. Wir bewunderten die fein ziselierte Silberware und besuchten ein hübsches kleines Museum in einem steinernen Wehrturm. Und wir trafen viele Frauen mit weissem Kopftuch auf dem Weg zu einer Gedenkfeier. Sprachbedingt fanden wir nicht heraus, wem oder was sie gedenken und wozu sie die gefalteten Decken über dem Arm trugen.
Die anderen Bergdörfer wären ebenso aufwändig zu erreichen gewesen und wir entschieden uns schweren Herzens, uns vom Kaukasus zu verabschieden, der uns die letzten Monate steter Orientierungspunkt war. Vorbei an der Sanddüne Barkhan Sarykum, die sich mitten in der Landschaft über 200 Meter erhebt, und gar eine kurze Strecke durch Tschetschenien erreichten wir die autonome Republik Kalmückien. Dies ist die einzige mehrheitlich buddhistische Region in Europa. Da die wenigen Menschen fast ausschliesslich in der Stadt Elista leben, die fast 300 Kilometer weiter westlich liegt, sahen wir weder Häuser noch die typischen Stupas. Dennoch wurde unser Bus beim Eintritt von einer überdimensionalen Röntgenmaschine auf Waffen durchleuchtet. Vermutlich, weil Dagestan und Tschetschenien nach wie vor als Unruheherde gelten.
Grenzregion Russland – Kasachstan
Einer Intuition folgend erreichten wir Astrachan bereits am vierten Visatag. Im Hotelzimmer erreichte uns das Gerücht, dass Kasachstan am Folgetag die Grenzen schliessen würde. Wir wollten unsere Chance auf eine Weiterreise wahren, fuhren noch am gleichen Tag zum Zoll und durften schliesslich kurz vor Mitternacht nach Kasachstan einreisen. Eine ausführlichere Beschreibung dieses Grenzübertrittes findet ihr im Blogbeitrag «Die Welt im Ausnahmezustand». In Kasachstan hatten wir die vierte Zeitverschiebung innert vier Tagen: Aserbaidschan +3 Stunden, Dagestan +2 Stunden, Astrachan +3 Stunden, Kasachstan +4 Stunden. Jetzt mit der Sommerzeit sind es übrigens wieder +3 Stunden.
Nach der Grenze erwarteten uns schlimmste 250 Kilometer Asphalt. Mit einem Schnitt von etwas über 20 km/h versuchten wir, die knöcheltiefen Schlaglöcher zu umfahren und dabei keinem der zahlreichen Lastwagen in die Quere zu kommen. Wann immer möglich wichen wir auf die parallel verlaufende Sandpiste aus. Auto und Menschen litten, einzig die stoisch im kalten Wind grasenden Kamele vermochten uns aufzuheitern. Nach zwei Tagen Gerüttel, Geschüttel und Geholper erreichten wir Atyrau. Riesige Ölfelder mit legofarbenen Pumpen umgeben die ohne ersichtliches Konzept hingestellten Sowjet-Bauten.
Wir steuerten ein 4-Sterne-Hotel an, doch das Gebäude schien uns so wenig einladend, dass wir gar nicht erst ausstiegen, sondern direkt zum 5-Sterne-Hotel Sultan Palace weiterfuhren. In einem wunderschönen Zimmer ohne wunderschöne Aussicht feierten wir Tanjas Geburtstag. In der Volkswagenvertretung liessen wir das losgerissene Kabel für die Anzeige der Kühlwassertemperatur reparieren. Zudem entdeckte einer der acht Mechaniker, die den Kopf in unseren Oldtimer steckten, einen undichten Benzinschlauch, der ebenfalls ersetzt wurde.
Mangghystau
Mit Atyrau liessen wir den nördlichsten Punkt des Kaspischen Meeres hinter uns und erreichten das Gebiet Mangghystau. Wir übernachteten abseits der Hauptroute, unser frisch gewaschene Bus sah 24 Stunden später bereits wieder aus, wie durch den Dreck gezogen. Das änderte sich auch in den folgenden Tagen nicht, denn wir verliessen die asphaltierte Strasse und bogen in eine Sandpiste ein. Ein kleines Schild wies den richtigen Weg: Beket Ata, 140 Km. Vor uns tat sich eine schier endlose Weite auf mit niedrigen Sträuchern und frei grasenden Pferdeherden. Es ist gar nicht so einfach, sich für einen Schlafplatz zu entscheiden, wenn alles gleich aussieht. Unsere erste Wahl fiel ausgerechnet auf einen Flecken, an dem Ziesel unzählige Höhleneingänge gebuddelt hatten. Wir respektierten ihr Revier und suchten unseres einige hundert Meter weiter.
Beket Ata ist eine heilige Stätte mit einer in den Felsen gehauenen Untergrundmoschee, die aus drei weiss getünchten Räumen mit niedrigen Verbindungsgängen besteht. Viele Muslime pilgern hierher und laben sich am heiligen Wasser. Was wir erst nicht wussten: die Moschee und die Quelle liegen fast 200 Höhenmeter unterhalb des Eingangstores. Aus eben mal schnell Wasser holen wurde eine kleinere Wanderung, jedoch mit Aussicht auf das Ustyurt National Reserve: eine Ebene, viermal so gross wie der Bodensee, umfasst von steilen Felswänden und gespickt mit faszinierenden Steinformationen.
Wir parkten etwas weiter südlich auf einer Felsnase. Das Abendlicht tauchte die schroff abfallenden Riffe in Weiss und Rosa, die langen Schatten der Tafelberge zeichneten ihre Muster auf die Ebene. Als wir mit dem Fernglas der Kante folgten, sahen wir drei Velos stehen – sie gehörten Roxane, Julien und Victor, denen wir am Hafen von Alat begegnet sind, als wir auf die Fähre warteten. Es war ein freudiges Wiedersehen und so endete der Tag mit einem Potluck und der letzten Flasche Prosecco, die wir seit Michaels Geburtstag noch im Kühlschrank hatten.
Aus dem Plan, noch eine Nacht unten auf der Ebene zu verbringen, wurde nichts. Einerseits war der steinige Untergrund anspruchsvoller, als wir uns und dem Bus zutrauten, andererseits bemerkten wir, dass die vordere linke Stabistange futsch ist. Erneut. Und diesmal richtig abgebrochen. Mit einem Stück Gartenschlauch fixierten wir sie so, dass sie nicht auf das Chassis aufschlagen konnte. Danach fuhren wir sicherheitshalber weiter nach Zhanaozen. Bei Shopan Ata, einem der zahlreichen Friedhöfe, die bis zum 10. Jahrhundert zurückgehen, hielten wir kurz an, ansonsten kämpften wir uns durch die Umfahrungspiste der kilometerlangen Baustelle. Zweimal mussten wir anhalten, weil Staubwolken keinen Meter Sicht mehr zuliessen. Der Sand setzte sich in allen Ritzen und Poren fest. Wir blieben lange genug in der Stadt, um alles zu reinigen und die in Albanien bereits reparierte und in Tiflis ausgetauschte Stange erneut einzusetzen, bevor wir nördlich weiterfuhren.
Mitten aus der Steppe ragt Sherkala, auch Lions Rock genannt. Wir fanden am Fusse des Felsens einen Stellplatz, wo eine Gruppe kasachischer Ölarbeiter auf Urlaub Lammfleisch zubereitete und uns kurzerhand zum Essen einlud. Das Delikatessenstück vom Darm liessen wir unbeachtet, dafür waren unsere Gastgeber beim Schnupftabak sehr skeptisch.
Als am nächsten Tag eine Schildkröte über den Platz kroch, trauten wir unseren Augen nicht! Wir sollten in den kommenden Tagen noch einige davon entdecken, doch die erste kam so unerwartet, dass wir schon vermuteten, es sei das entlaufene Haustier der in der Nähe picknickenden Familie. Etwas später buhlten wir an einer Quelle mit zwei Kamelen um das frische Wasser. Da die Nächte über dem Gefrierpunkt blieben, konnten wir endlich wieder unseren Wassertank befüllen.
Steinkugeln ragten bis zu zwei Meter aus dem Sand und erinnerten uns an die farbigen Mocken mit den verschiedenen Schichten, die wir als Kinder so gerne lutschten. Bei einigen Steinen ist ein Teil der äusseren Schicht abgefallen und liegt wie eine überdimensionierte Fruchtschale auf dem Boden. Willkommen im Valley of Balls! Hier erlebten wir den ersten Tag ganz ohne andere Menschen, nur in Gesellschaft von unzähligen Sternen am klaren Nachthimmel.
Aktau
Ursprünglich wollten wir noch eine weitere Untergrundmoschee sowie Fort Schewtschenko besuchen, doch die Lage spitzte sich wegen dem Corona-Virus zu. Da die geltenden Bestimmungen vorderhand eine Einreise nach Aktau noch ermöglichten, wollten wir einmal mehr auf sicher gehen. Unsere Velofreunde, die bereits vor Ort waren, vermittelten uns eine Wohnung im gleichen Haus, in dem es bequemerweise auch einen Supermarkt gibt.
Kasachstan steht nun ganz im Zeichen der Pandemie, sämtliche Behörden haben ihren Dienst für zwei Wochen eingestellt, Reinigungsmaschinen sprayen Desinfektionsmittel im Konvoi und an der Promenade plärren Lautsprecher irgendwelche Anweisungen. Wir werden hier die Zeit abwarten, bis ein Weiterkommen möglich ist. Für 6'000 Tenge pro Nacht (knapp 15 Franken) haben wir zumindest keinen Budgetdruck, dafür viel Zeit, um an unseren Projekten zu arbeiten. Und zu fünft werden wir uns trotz Reise-Stillstand zumindest nicht langweilen.
Weitere Fotos sind in der Fotogalerie Zentralasien zu sehen. Zudem sind unsere schönsten Bilder neu auch als Fine Art Print zu kaufen.